Zum Nachtisch wilde Früchte
Mensch, und schließlich der Mann ohne Kopf. Eine Frechheit war das Schreiben des Schaustellers Norbert Jackel aus Hamburg. Er schrieb: »Zur Belustigung aller Ihrer Gäste kann ich Ihnen meinen Flohzirkus anbieten. Ich kann zweihundert Flöhe in historischen Uniformen stellen, die naturgetreu die Schlacht bei Leipzig vorführen …«
Konrad Ritter hatte den Brief sofort verbrannt. Es war unmöglich, daß der gebildete ›Führungsstab Divisionstreffen‹ so etwas las.
Aber nun war alles klar. Man hatte einen Platz, auf dem Plan herrschte die Ordnung eines generalstabsmäßigen Aufmarsches … Konrad Ritter fuhr zurück nach Düsseldorf in dem Bewußtsein, in vierzehn Tagen der Welt zeigen zu können, daß nicht allein die Grande Armee in Frankreich Tradition in Europa besitzen darf, sondern auch der deutsche Soldat.
Auf der Rückfahrt gab er einem zufällig im Abteil mitfahrenden Journalisten ein Interview. Es erschien vier Tage später im ›Journal de Paris‹ in Frankreich. Überschrift: ›Am 30. August marschiert in Nürnberg der deutsche Revanchismus!‹
»So wird man verkannt!« sagte Konrad Ritter, als ihm General v. Rendshoff den Artikel vorhielt. »Es ist die Tragik unserer Nation, Herr General, verkannt zu werden. Darunter leiden wir ja seit Generationen. Lassen wir uns nicht mürbe machen. Wie rief Herr General beim Angriff auf Shitomir? ›Der Sonne des Sieges entgegen – marsch – marsch!‹ Das soll ein Motto sein!«
General v. Rendshoff nickte ergriffen.
Welch große Zeiten liegen hinter einem …
Die Klinik in Turin, in die Boltenstern nach langem Suchen Hermann Schreibert gebracht hatte, unterschied sich wesentlich von der feudalen Privatklinik Dr. Helleraus in Oberstdorf.
Hier gab es keine amerikanischen Gummimasken, keine Gesellschaften, keinen Tanztee, kein Schwimmbecken, kein Tennis, keinen Park, keine Liebeleien. Ein nüchterner Krankenhausbetrieb war es, mit Ordensschwestern in großen, beim Gehen wehenden Hauben, mit einem kleinen Heer von Ärzten, die jeden Morgen Visite machten, mit Gesichtsverletzten, die nichts hinter einer Fassade verbargen, sondern ihr schreckliches Leid offen trugen. Die einen mit unförmigen, wurstähnlichen Gebilden im Gesicht … überpflanzte Roll-Lappen, die eine neue Gesichtspartie ergeben sollten, die anderen mit noch frischen Wunden, wo man auf die endgültige Deformierung des Gesichtes wartete, bis man an eine Plastik gehen konnte. In diesem Kreis war Schreibert nichts anderes als der Patient von Zimmer 78, er erhielt sein Essen, wurde untersucht, konnte sich Bücher kaufen und war im übrigen dazu verurteilt, zu warten, bis der Professor – er hieß Umberto Sarnizzi – das Startzeichen gab und – wie er sagte – zunächst mit der Plastik der linken Wange beginnen wollte.
In diesen Tagen des Wartens empfing Schreibert zwei Briefe.
Der erste wurde ihm am 21. August ausgehändigt, der zweite am 25. August. Und beide Briefe warfen ihn in eine Hölle.
Corinna Colman schrieb aus der ›Bergwald-Klinik‹:
»Mein Liebster!
Dieser Brief wird durch die Putzfrau Emma herausgeschmuggelt. Ich habe ihr dafür meinen Brillantring geschenkt. Es ist nicht viel, was ich Dir zu sagen habe. Dr. Hellerau hat mit Dir gesprochen, ich weiß es, und alles, was er sagte, war Lüge. Ich liebe Dich, und ich würde mit Dir ziehen, wohin Du willst, und glücklich mit Dir sein –, nur eines mußtest Du wiederhaben: Dein Gesicht. Solange ich in der Welt der Masken lebe, ist meine Liebe tatsächlich Spiel … hättest Du ein Gesicht, Liebster –, ich könnte die seligste Frau werden …«
Hermann Schreibert trug diesen Brief herum wie eine Ikone. Mit Heftpflaster hing er ihn an die Wand und saß davor, las ihn immer wieder und lernte ihn auswendig.
Wenn du ein Gesicht hättest …
Ein Gesicht.
Ein Gesicht!
Gesicht!
Er erkannte nicht die höllische Qual, die dieser Brief in ihm erzeugen sollte, er war blind für die teuflische Lust Corinnas, die diesen Brief schreiben ließ … er glaubte ihn, er saugte die Worte in sich wie Honig, und er begann, aus dem Wissen heraus, nie ein Gesicht mehr zu haben, das Corinna erfreuen würde, Boltenstern so zu hassen, daß dessen Vernichtung zu seinem einzigen Ziel wurde.
Der zweite Brief, abgestempelt in Düsseldorf, war anonym, mit einer Schreibmaschine geschrieben.
Er enthielt eine eingehende Schilderung der Nacht vom 21. zum 22. Mai, in der Richard Erlanger erwürgt wurde. Eine Schilderung, die anders war als das, was
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