Zum Nachtisch wilde Früchte
keine Besprechung im Park-Hotel hatte. Ich habe ja eine Stunde später angerufen. Nichts bekannt! Ihr habt ihn auf dem Gewissen! Oh, mein armes Böckchen …«
Boltenstern schob Madeleine Saché zur Seite wie eine im Wege stehende spanische Wand und beugte sich über Schreibert. Der Kopf war völlig verbunden, eine einzige weiße Kugel. Blaß lagen die Hände auf der Bettdecke, und als Boltenstern sie hochhob, fielen sie schlaff wieder zurück.
»Er ist noch immer besinnungslos«, jammerte Madeleine. »Er hat sich noch nicht gerührt. Wenn er stirbt … ihr seid schuld, ihr Säufer, ihr Wüstlinge! Ihr habt mein Böckchen verführt! Immer habt ihr das getan!«
Boltenstern verließ das Zimmer, ohne sich um Madeleine zu kümmern. Er hatte Schreibert nie verstanden, wie er sich eine solche Geliebte zulegen konnte. Sie war unter seiner gesellschaftlichen Stellung. Aber vielleicht kam es daher, daß sie Madeleine hieß und Pariserin war. Bei Paris wurde Schreibert unlogisch, das war schon immer so.
Im Chefarztzimmer traf Boltenstern mit dem Oberarzt zusammen. Dort erfuhr er die völlige Wahrheit.
»Ein paar Prellungen, ein Rippenbruch, ein Bruch des linken Unterschenkels, aber das sind alles kleine Fische.« Der Oberarzt blickte in das Krankenblatt. Seine Miene drückte ehrliches Mitleid aus. »Nicht mehr reparabel ist sein Gesicht. Als Herr Schreibert gegen den Baum fuhr, mit voller Fahrt, ist er zuerst gegen den Stamm geprallt und zwar so, daß die Rinde wie ein Schmirgelpapier wirkte. Erst dann fiel er aus der Tür.« Der Oberarzt stockte. Es kostet auch für einen Chirurgen eine Überwindung, das folgende zu sagen. »Herr Schreibert hat sein Gesicht verloren. Er sieht nicht mehr wie ein Mensch aus. Sein Antlitz, das, was ihn zu Hermann Schreibert machte, ist abgeschmirgelt. Wenn er überlebt, wird es Jahre dauern, bis es wieder menschlich aussieht.«
»Mein Gott …«, sagte Boltenstern. Als er aufstand, schwankte er leicht. »Mein Gott, das ist das Fürchterlichste, was es gibt …«
Mit gesenktem Haupt verließ er die Klinik.
4
Trotz einiger Bedenken der Kriminalpolizei hatte der Staatsanwalt die Leiche Erlangers zur Bestattung freigegeben. Dr. Breuninghaus hatte dafür gesorgt. Die medizinischen Berichte lagen vor, die Aufnahmen des Toten waren gestochen scharf … man brauchte den Körper nicht mehr. Vor allem hatte Dr. Breuninghaus das Wichtigste unterbunden: In die Presse kam keine Zeile! Der Fall Erlanger wurde von der Justizstelle verschwiegen. »Selbstmord ist tiefste Intimsphäre!« hatte der Oberstaatsanwalt verlauten lassen. »So etwas gehört nicht in die Zeitung und als Lektüre zum Morgenkaffee!«
Einen Tag nach der Freigabe Erlangers erschienen in allen großen Zeitungen an Rhein und Ruhr und überregional in den großen deutschen Blättern halbseitige Todesanzeigen. Mit dickem schwarzem Rand, mit diskreter Schrift, mit einem Text, den Boltenstern gestaltet hatte und der von Petra Erlanger genehmigt worden war.
Er starb in voller Schaffenskraft … stand da. Sein Tod hinterläßt eine Lücke, die nie zu schließen ist … Um sein Andenken werden wir uns scharen und ihn uns für immer zum Vorbild nehmen …
Und der BUND DEUTSCHER DIVISIONEN hatte eine Riesenanzeige eingesetzt, mit einem großen Eisernen Kreuz und der dicken Überschrift: Leb wohl, Kamerad! Dann wurde an Rußland erinnert, an die großen Schlachten, an den Blutzoll deutscher Männer, an die Ehre …
Es war wie eine Rede Konrad Ritters, gehalten zum Jahrestag der Vernichtung der Division im Januar 1945 bei Meseritz an der Obra.
Am Begräbnistag, dem 28. Mai, einem Tag nach Himmelfahrt, schien eine strahlende, warme Sonne über dem Parkfriedhof.
Seit zwei Stunden fuhren die Autos vor und füllten den Parkplatz vor dem großen Gittertor. Fünf Omnibusse waren gekommen … zwei mit Divisionskameraden, einer mit dem Gesangverein ›Liedertafel 1808‹, einer mit dem Turnverein ›ASV 1901‹ und einer mit dem Kegelklub ›Schiefe Klötz‹. Feuerwehr, Kriegerverein, die Schützen-Gesellschaft von 1923 und der Fußballklub, dessen Mäzen Richard Erlanger gewesen war, kamen zu Fuß. In Marschkolonne, mit Fahnen, um die Fahnenspitzen flatternder Trauerflor, mit gedämpfter Musik und ernsten Gesichtern. Ein grandioser Aufmarsch war es, der die Beliebtheit Erlangers bewies und seine freigebige Hand, die nun für immer von ihnen ging und in der Erde verdorrte.
So etwas ist sichtbarer Trauer würdig, zumal die Witwe am Grabe stand
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