Zum Nachtisch wilde Früchte
»Aber bitte, mein Herr, wenn Ihre Moral leidet … dort liegen Säcke. Holen Sie sie und bedecken Sie mich damit.«
»Unmöglich!« Werner Ritter hob den rechten Zeigefinger. »Ich werde doch nicht Kalbfleisch in rohes Leinen verpacken!«
»Du Schuft!« Sie wollte nach ihm greifen, er sprang zur Seite, sie lief ihm nach und vor dem Ofen bekam sie ihn zu fassen und riß ihn zu sich herum. »Zur Strafe einen Kuß!« lachte sie. »Einen langen Kuß –«
»So lange wie der Weg nach Düsseldorf?«
»Bis nach Rom, du lahmer Wanderer!«
Aber sie küßten sich nicht … ihre Bewegungen, ihre ausgebreiteten Arme, ihr fröhliches Lachen erstarrten.
Die Tür der Hütte sprang auf. Ein Mann in Reitdreß kam herein, die Reitgerte schlagbereit in der Hand.
»Aha!« schrie der Mann, warf die Tür zu und überblickte mit einem Rundblick den kleinen Raum. »Da bin ich in der richtigen Minute gekommen!«
»Paps!« schrie Jutta auf. Sie war die erste, die sich aus der Schrecklähmung befreite. Sie riß einen alten Lappen vor ihre Brust und wich bis zum Ofen zurück. »Du verkennst die Situation!«
Boltenstern schüttelte den Kopf. Er wippte mit der Reitgerte und sah Werner Ritter an, als wolle er sich gleich auf ihn stürzen.
»Ich sehe richtig!« schrie Boltenstern. »Meine Tochter dreiviertel nackt allein mit einem Mann in einer Hütte, die normal verschlossen ist. Ich will nichts hören!« brüllte er, als Jutta etwas sagen wollte. »Ich will von dir überhaupt nichts hören! Dieser Herr hat zu reden! Wenn eine Dame in einer solchen Situation ist, hat der Herr dafür Rechenschaft abzulegen! Also bitte, Herr Ritter!«
»Sie verkennen wirklich die Lage«, sagte Werner Ritter dumpf. Er stellte sich vor Jutta, als sei er ein lebender Schild, und sie versteckte sich hinter seinem Rücken vor den Blicken ihres Vaters. »Ich versichere, Herr Boltenstern, daß Ihre Tochter …«
»Auf Ihre Versicherungen pfeife ich! Meine Tochter und Sie verbergen sich in skandalöser Nacktheit in einer Waldhüterhütte, und ich soll Erklärungen entgegennehmen? Für was halten Sie mich denn?! Wenn das damals im Offizierskorps vorgekommen wäre, hätte ich Sie gefordert! Kein Wort, Jutta! Zieh dich an! Als ich hereinkam, habe ich gesehen, wie dieser Herr da hinter dir herjagte wie ein trunkener Faun!«
»Herr Boltenstern!« Werner Ritter trat einen Schritt vor. »Um die Ehre Juttas zu schützen …«
Boltenstern machte einen schrecklichen Eindruck. Aber das war geübt, das war ein vollendetes Theater, in dem er sich selbst bewunderte. Das ist mein Triumph, dachte er dabei. Petra Erlanger als meine Frau und nun diesen Werner Ritter …
»Die Ehre Juttas?!« brüllte er mit der ganzen Stimme, die in seinem Brustkorb wohnte. Sie zerschellte fast in dem engen hölzernen Raum. »Wollen Sie noch von Ehre sprechen, Sie?«
Er hob die Reitgerte, schwang sie über seinem Kopf, Ritter wich zurück und hob schützend beide Arme vor sein Gesicht, und Jutta umklammerte ihn von hinten und zog ihn weg aus dem Bereich der Peitsche.
»Vater!« schrie sie hell. »Wenn du zuschlägst … wenn du zuschlägst … Ich liebe ihn …! Wir wollen heiraten! Vater!«
Und plötzlich lag unheimliche Stille zwischen ihnen, und sie kamen sich vor wie in einem luftleeren Raum, in dem man nicht mehr atmen konnte und die Lungen platzen.
»Ihr wollt heiraten?« sagte Boltenstern in die gefährliche Stille hinein. Die Reitgerte sank herab, es war noch ein Schlag, aber er traf nicht mehr Werner Ritter, sondern klatschte gegen die Stiefel Boltensterns.
»Ja!« antwortete Ritter tonlos. »Ja, wir wollen heiraten.«
»Soll ich das als einen Antrag ansehen, junger Mann?« Boltensterns wütende Enttäuschung über seine Tochter schien sich zu glätten. Jutta atmete auf, riß die Bluse von der Leine und streifte sie über. Sie war noch halb feucht, die Nässe lag kalt auf ihrer Haut, sie fröstelte, aber sie knöpfte sie zu, mit gesenktem Kopf, ein Zittern in allen Gliedern. Ein merkwürdiger, fast rührender Anblick war es.
Boltenstern sah Werner Ritter unter zusammengezogenen Augenbrauen an. Er wartete nicht ab, bis der junge Mann weitere Berichtigungen der Situation geben konnte.
»Ich erwarte Sie am Sonntagvormittag zwischen elf und zwölf Uhr bei mir«, sagte er knapp. »Ich habe erwartet, daß der Sohn meines Freundes und Kriegskameraden ein Ehrenmann ist. Ich bitte um Entschuldigung für meine Erregung, die aber jedem Vater in meiner Lage verständlich erscheint.«
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