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Zum Tee in Kaschmir

Titel: Zum Tee in Kaschmir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nazneen Sheikh
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üblichen Maulbeerwein getrunken hatte. Er erklärte mir, dass in fast allen Kulturen dieser Welt irgendeine Art von Alkohol gebraut wurde und dass es deshalb nur klug sei, die einheimische Kultur auf allen Ebenen kennen zu lernen. Angesichts dieser schlichten Feststellung verschwand mit einem Schlag ein großes Tabu aus meinem Leben, denn meine Eltern hielten sich trotz ihrer ansonsten so liberalen und freien Haltung an das für Moslems gültige Alkoholverbot und duldeten deshalb in ihrem Hause auch niemals irgendwelche Spirituosen.
    Mein weltgewandter Onkel machte mir auf diese Art und Weise bewusst, dass auch in dem Land, in dem ich lebte, Alkohol getrunken wurde und dass der Alkohol sowohl dazu diente, eine Mahlzeit zu vervollständigen, als auch bei gesellschaftlichen Anlässen eine entspannte oder festliche Stimmung zu schaffen. Der große persische Dichter Omar Chaijam, der im elften Jahrhundert gelebt hatte und der sowohl für die Sinnlichkeit als auch für die Weisheit seines Werks bekannt ist, schuf mehr als einhundert epikureische Vierzeiler, in denen er sich der einzigartigen Metapher des Weins bedient.
    Anscheinend waren die Mitglieder meiner Familie gern bereit, eine Ausnahme von der Regel zuzulassen. Viele Jahre später flog ich einmal mit meiner Mutter, die mich gerade in Kanada besuchte, in die Vereinigten Staaten. Als die Stewardess mit ihrem Getränkewagen neben uns stehen blieb, sah mich meine Mutter nachdenklich an und meinte dann, dass unser Urlaub durch ein wenig Weißwein eine festliche Note bekommen würde. Ich war so verblüfft, dass ich ihren Vorschlag prompt ablehnte.

    Während meines Besuchs bei Amir zeigten sich die hochgeschätzten, vierhundert Jahre alten Regeln mogulischer Gastfreundschaft bei einem von ihm geplanten Ausflug einmal mehr als deutlich. Ich sollte ihn zu einem Besuch beim Fürsten von Khapalu begleiten, weil dessen sechzehnjährige Ehefrau Englisch sprach und sich deshalb bestimmt über meine Gesellschaft sehr freuen würde. Die Fahrt in das hundert Kilometer entfernte Tal würde mit dem Jeep etwa fünf Stunden dauern, wobei wir die letzen Kilometer zu Pferd zurücklegen würden. Für ihn sei das ein offizieller Besuch, meinte mein Onkel beiläufig, aber ich dürfe Hosen tragen, wenn ich wolle.
    Also fuhren wir mit dem Jeep zwischen terrassenförmig angelegten Feldern hindurch, kamen an Obstplantagen vorbei und folgten dem gewundenen Lauf des Flusses Shayok. Ich saß neben Amir auf dem Rücksitz. Er hatte seine balti -Wollkappe keck in die Stirn gezogen und trug einen graubeigen Mantel, der am Hals mit einer türkisfarbenen Schmucknadel zusammengehalten wurde. Er rauchte während der Fahrt eine Zigarette nach der anderen und hielt mir einen erstklassigen Vortrag in Geschichte. Hin und wieder bot er mir auch eine Hand voll getrockneter Aprikosen als kleinen Imbiss an. Am Ende der befahrbaren Straße wartete dann eine Gruppe von Männern mit Pferden auf uns. Ich durfte eine Stute mit seidig glänzendem braunem Fell reiten, die Bigli hieß, was Blitz bedeutet, während Amir auf einem schwarzen Hengst saß und aussah, als wolle er gleich davongaloppieren und eine in Not geratene Prinzessin retten. Während wir also das letzte Stück Weg zu Pferd zurücklegten, merkte ich, dass ich in der frischen Bergluft richtig Appetit bekommen hatte, und war deshalb froh, dass uns der Radscha von Khapalu zum Mittagessen eingeladen hatte.
    Der Radscha begrüßte uns vor seinem Palast, einem quadratischen Holzgebäude mit einem pyramidenartigen Dach, das von einem spitzen Türmchen gekrönt wurde, und geleitete uns höchstpersönlich hinein. Mich führte man sogleich in ein prächtiges Zimmer, wo ich von einer jungen Frau empfangen wurde, die aussah wie ein Schulmädchen. Sie hatte Zöpfe und trug einen Wollpullover. Um ihren Hals lag eine schwere Kette aus Goldmünzen. Nachdem sie sich mir als die Königin dieses atemberaubenden Tals vorgestellt hatte, fragte sie mich, ob ich ihr vielleicht irgendwelche Bücher in englischer Sprache mitgebracht hätte. Ich musste das leider verneinen. Voller Bestürzung erkannte ich, wie sehr sie sich in ihrem kleinen Dorf, das sich an die steilen Hänge unzugänglicher Berge krallte, nach Kontakt zur Welt außerhalb ihres Tals sehnte. In eben diesem Moment sah ich auf ihrem zarten Gesicht auch die tiefen Schatten der Einsamkeit. Trotz

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