Zum Tee in Kaschmir
Volksmund behauptet, dass ein schweres Gewitter mit heftigem Regen nötig ist, damit die Morcheln ihre Fruchtkörper aus dem Boden schieben. Guchis zu suchen war eine einzige Geheimniskrämerei, da die Pilzsammler ihre Fundstellen niemals verrieten. Wenn man eine Morchel erntet, wird das Myzel darunter für immer zerstört. Die Morcheln werden in der Sonne getrocknet, der cremefarbene Stil und die schwarze Kappe schrumpeln dabei zusammen, so dass sie schlieÃlich an kleine Kügelchen aus verknittertem Leder erinnern.
Obwohl meine Mutter anbot, die Guchis, die Amir mitgebracht hatte, selbst zuzubereiten, knöpfte mein Onkel bedächtig seine Manschetten auf, krempelte die Ãrmel bis zu den Ellbogen hoch und begab sich selbst in die Küche. Mein Vater schien angesichts der Vorstellung, dass ein verheirateter Mann von Amirs gesellschaftlichem Rang höchstpersönlich etwas zubereiten würde, mehr als verblüfft. Er protestierte sogar meiner Mutter gegenüber, diese ignorierte ihn jedoch einfach. Eine Stunde später kam Amir aus der Küche, nickte meiner Mutter kurz zu, krempelte die Ãrmel herunter und knöpfte seine Manschetten bedächtig wieder zu. Als das Gericht dann auf den Tisch kam, hatten die Morcheln mit ihrem kräftigen, waldigen Aroma die Textur einer zarten Rinderlende mit einem dunklen Jus angenommen. Für mich war dies nichts anderes als ein weiterer Beweis für Amirs Zauberkünste. Wer sonst konnte einen Pilz in Fleisch verwandeln?
Meine Geschwister beneideten mich sehr darum, dass ich Amir und seine Familie einmal für zehn Tage ganz allein besuchen durfte. Ich war damals schon fast achtzehn Jahre alt, und dieser Besuch eröffnete meinem abenteuerlichen Geist völlig neue Horizonte. Ironischerweise lebte Amir zu dieser Zeit gerade in der Region, die den Autor James Hilton zu seinem bekannten Buch Lost Horizons inspiriert hat. Die Tage bei Amir und seiner Familie drehten sich vor allem um die Kochkunst und die Gastfreundschaft der Moguln einschlieÃlich ihrer komplizierten Rituale. Diese Tage wurden durch groÃzügigste Auslegung der Regeln sowie nicht ungefährliche Ausflüge bereichert.
Ich besuchte meinen Onkel, kurz nachdem ich ein Jahr als Austauschstudentin in den Vereinigten Staaten verbracht hatte. Nach meiner Rückkehr war ich plötzlich vollkommen unschlüssig, wie es mit meinem Studium weitergehen sollte, da ich in eine Art bikultureller Depression verfallen war. Meine Mutter sah sich das Ganze eine Woche lang an, dann schlug sie mir einen Besuch bei Amir vor, der zu dieser Zeit gerade ins Skardutal in den Nordgebieten Pakistans versetzt worden war. Ich nahm seine Einladung begeistert an und saà schon am nächsten Tag in einem Flugzeug und blickte auf den Karakorum mit seinen bis zu achttausend Meter hohen Berggipfeln hinab. Unter diesen Berggipfeln ist der K2, welcher der höchste Gipfel im Karakorumgebirge und der zweithöchste Berg der Welt ist. Die Stadt Skardu liegt in einem von hohen Bergen umgebenen Tal. Der Name Skardu leitet sich der Ãberlieferung zufolge vom Wort Iskaraldu ab, dem orientalischen Namen Alexanders des GroÃen, der diese Stadt gegründet haben soll.
Der Baltistan, jene Region, in der Skardu liegt, stand im elften und zwölften Jahrhundert unter buddhistischer Herrschaft. Hier endete die berühmte SeidenstraÃe, auf der Seide aus China und Teeziegel aus Tibet transportiert wurden, um diese Waren hier gegen Gewürze und Salz einzutauschen. Moguln und Chinesen vermischten sich mit den einheimischen Stämmen und brachten eine regionale Küche hervor, deren Schwerpunkt auf pfannengerührtem Fleisch lag. Im späten achtzehnten Jahrhundert versuchten die Kaschmirer mehrmals, dieses Gebiet, das direkt an ihr Territorium angrenzte, zu annektieren, wurden jedoch immer zurückgeschlagen.
Im Baltistan war Polo ein weitverbreiteter Sport. Obwohl das Polospiel eigentlich im alten Persien entstand, wo es nach dem dort verwendeten Schläger changan genannt wurde, erheben auch die Völker des Karakorum Anspruch auf die Urheberschaft. Der Mogulkaiser Akbar war von diesem Spiel sogar so fasziniert, dass er es nach Sonnenuntergang mit beleuchteten Bällen spielte.
Wenn man nach Skardu fliegen wollte, musste man stets darauf gefasst sein, dass der Flug wegen Nebels in den Bergen annuliert wurde. In meinem Fall war es eine glückliche Fügung, dass am Tag meiner Abreise
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