Zungenkuesse mit Hyaenen
nicht drohen? Schreib, dass du auspackst. Wer weiß.«
Er hatte recht. Warum sollte ich Mutter schonen? Warum sollte ich betteln? Warum sollte ich länger ein Meerschwein sein? Ich zerfetzte das Blatt in kleine Stücke und begann neu:
Liebe Mutter,
wenn Du nicht umgehend hier aufkreuzt und mich besuchst, dann sage ich denen alles, was ich weiß.
Michael
Ich las die Zeilen nochmals durch, strich kurzerhand die Anrede »Liebe« durch und gab den Brief so in die Anstaltspost. Nur drei Tage später verkündete Steinbrecher, der Untersuchungsstrafgefangene Michael Rothe habe Besuch. Na also! Gonzo lächelte und hob die Faust, als ich aus der Zelle geführt wurde. Stumm trottete ich Steinbrecher nach, die Hände in Handschellen vor der Brust, während er unzählige schwere Gittertüren vor uns öffnete und hinter uns wieder verschloss. Ich wurde immer nervöser. Mit dem Brief an Mutter hatte ich eine neue Tonart vorgegeben. Die musste ich nun durchhalten. Ich durfte nicht weich werden, nicht umkippen, keine Angst haben, und selbst wenn ich Angst hätte, dann dürfte ich sie nicht zeigen.
Der Raum, in den Steinbrecher mich führte, war vollkommen kahl bis auf zwei schulbankartige Tische, die mittig standen. Links und rechts der Tische standen Leichtmetallstühle, und auf einem davon saß, tatsächlich, Mutter. Sie saß nicht, sie thronte. Und in der Sekunde, als ich sie thronen sah, traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Nicht Müller war der Drache, den ich töten musste. Mutter war der Drache. Mutter war das feuerspeiende, mehrköpfige Untier, die Wurzel allen Übels in meinem Leben.
»Mutter ...«, sagte ich, kraftlos von der Wucht der Erkenntnis, und ließ mich auf den leeren Stuhl fallen.
Steinbrecher hatte sich breitbeinig vor der Tür aufgebaut und murmelte etwas in seinen Bart.
»Pardon?«, sagte Mutter, ohne hinzuschauen.
Steinbrecher zog die Daumen aus dem Gürtel. »Zwanzig Minuten.« Mutter drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Zum ersten Malsaß ich mit meinem verhassten Wärter in einem Boot. Er hatte nicht im ganzen Satz gesprochen. Keine Kinderstube, keine Manieren. Was bildete der sich ein. Ungehobelter, ungebildeter Gesell! Wusste er nicht, wie man mit einer Dame sprach? Zum ersten Mal erlebte ich Steinbrecher verunsichert. Kein Wunder. Sogar Big Ben hatte sich von ihr zum Rauchen in den Garten schicken lassen. Im Winter! Bei minus 15 Grad Celsius! Gleich würde Mutter den Rohrstock aus der Tasche ziehen, und dann warte. Ich stellte mir Steinbrechers massigen Rücken vor, gepeitscht bis aufs Blut.
»Zwanzig Minuten – was?«
Steinbrechers Haltung straffte sich. »Zwanzig Minuten Besuchszeit.«
Mutter nickte ungnädig. »Danke! Sie können jetzt gehen.« Steinbrecher zerrte an seinem Kragen, als wollte der ihn erwürgen. Auf seiner Stirn standen kleine Schweißperlen. »Ich kann nicht gehen«, sagte er.
»Pardon?«
»Ich muss dabeibleiben.«
»Aha.«
Mutter wendete sich wieder zu mir. Ihr Blick traf mich wie ein Röntgenstrahl. Was mutest du mir hier zu?, sagte er. Wir könnten gemütlich in Grimmelshausen sitzen, Rommé spielen und Tatort schauen, bis an unser Lebensende, wenn du mich nicht verlassen und uns beide ins Unglück gestürzt hättest.
»Diese Hitze da draußen ist nicht auszuhalten«, sagte sie und wischte ein Stäubchen vom Ärmel. Ganz aufrecht saß sie, und nur ein winziges Zittern am Kinn gab einen Hinweis auf emotionale Irritation.
»Mutter, lass uns die wenigen Minuten nicht mit Konversation verplempern. Ich will wissen, was hier vorgeht. Und ich muss wissen, was du damit zu tun hast.«
»Ich?«
Nun umspielte ein verächtlicher Zug ihren Mund und ihre helle Zungenspitze blitzte zwischen den wie immer bräunlich geschminkten Lippen auf. »Also, ich habe keine Orgien im Bordell veranstaltet, mich nicht widernatürlichen Neigungen hingegeben, bin nicht dem Rauschgift anheimgefallen, habe nicht meine nächsten Verwandten belogen und bestohlen, geschweige denn einen Cellisten ermordet.«
»Ich habe den Cellisten nicht ermordet.«
»Nichts zum Fall«, brummte Steinbrecher.
»Pardon?«, sagte meine Mutter in seine Richtung.
»Nichts zum Fall«, brummte Steinbrecher.
»Mutter, du musst mir helfen, zu verstehen, wie das alles zusammenhängt. Warum wolltest du nicht, dass ich nach Rizz gehe? Woher kennst du Müller? Was genau verbindet dich mit Big Ben?«
»Mein lieber Junge, ich wüsste nicht, was dich das angeht.«
Ich zückte den Dolch.
»Mein lieber Junge,
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