Zungenkuesse mit Hyaenen
mein lieber Junge, genau das ist das Problem! Deswegen bin ich jetzt in Schwierigkeiten, weil ich immer dein lieber Junge war, weil du mich mit Konventionen, mit Halbwahrheiten, mit Binsen vollgestopft hast, weil du mich belogen hast, mich abhängig gemacht hast von deinen Bestrafungen, von deinem beschissenen Bohneneintopf.«
Ich hatte das schmutzige Wort mit Bedacht gewählt, obwohl Mutters Bohneneintopf nun wirklich nichts dafür konnte. »Ich bin längst erwachsen, Mutter, und ich bin verdammt in Schwierigkeiten. Irgendwas ist hier faul. Ich hab ein Recht auf die Wahrheit! Ich meine, Big Ben nennt dich Mona, Müller nennt dich ihm gegenüber sogar ›unsere Mona‹.«
Mutters Blick schweifte ab, eine leichte Röte überzog ihre Wangen.
»Mutter, ich bin unschuldig, und ich glaube, du kannst mir helfen, das zu beweisen.«
»Wie soll man denn unter diesen Umständen ...?« Mutter sah strengzu Steinbrecher, der räusperte sich und betrachtete seine Trauerränder.
Die Tür des Besucherraums öffnete sich, und eine dicke Frau trat ein. Sie nahm am zweiten Tisch Platz, steckte sich eine Zigarette in den Mund und streichelte mit beiden Händen die Tischplatte.
»Haben Sie Feuer?«, fragte sie mich.
Ich hob die Schultern. Steinbrecher trat zu der Frau und gab ihr Feuer. Ich zog ebenfalls meine Zigarettenschachtel aus der Jacke, und Steinbrecher gab auch mir Feuer.
Man kann sich das Entsetzen in Mutters Gesicht nicht ausmalen.
Wir schwiegen, ich rauchte stumm, mit jedem Zug erwuchs mir eine neue Kraft, mit jedem Kraftschub, der sich dazugesellte, wuchs meine Wut. Ich blies der Alten nun regelrecht den Rauch ins Gesicht.
»Weißt du eigentlich, was du für einen Hanswurst aus mir gemacht hast? Ich hatte Angst vor Frauen, vor Spontanität, vor Schwulen, vor Ausländern ... Ich hatte keine Ahnung von irgendwas, so hast du mich in die Welt geschickt.«
»Ich hab dich nicht in die Welt geschickt.«
»Stimmt. Wenn es nach dir gegangen wäre, würde ich heute noch in Grimmelshausen hocken, Partnerschaftsanzeigen beantworten und heimlich wichsen.«
»Du bist sarkastisch. Und außerdem, meinst du wirklich, das mit dem ... Onanieren ist mir verborgen geblieben? Deine Laken waren so hart, man konnte sie brechen.« Mutter begleitete die Ungeheuerlichkeit mit einem entsprechenden Geräusch. Nun hatten wir beide die Contenance verloren.
Die Tür öffnete sich erneut, und ein dicker Häftling trat herein, die Hände vor der Brust in Handschellen, gefolgt von einem Wärter. Der Wärter nahm ihm die Handschellen ab, der dicke Mann lief strahlend auf die dicke Frau zu, sie küssten sich.
»Bitte unterlassen Sie das«, sagte sein Wärter und tuschelte mit Steinbrecher.
Da hörte ich, dass Mutter weinte. Sie hielt die Hände vors Gesicht und schluchzte leise. Nie hatte ich Mutter weinen sehen. Keiner der Anwesenden im Zimmer schien das als Sensation zu empfinden, obwohl es eine war.
Am Nebentisch begann die dicke Besucherin mit dem dicken Häftling zu streiten, Steinbrecher und sein Kollege waren in den neuesten Knasttratsch vertieft – und hier saß ich, rauchend, in einem weinroten Gefängnisjogginganzug, und starrte Mutter an, die die Fassung verloren hatte. Ich hatte kein Mitleid, im Gegenteil, ich spürte Verachtung. Kalt betrachtete ich Mutters Hände, die nun das Gesicht wieder freigaben. Sie waren alt geworden. Sie bewegten sich wie zum Schlachten freigegebene Tiere auf der Tischplatte. Wer saß denn hier unschuldig im Knast? Wer hatte denn hier das Recht, zu weinen? Doch nicht sie, die Aggressorin meiner Kindheit, die Hüterin meiner Tugend, die böse Frau mit dem Rohrstock. Ich, ich hatte jedes Recht, zu weinen, ich war schließlich das Kind.
»Es ist schon mehr als dreißig Jahre her«, sagte Mutter mit einer völlig neuen, jeglichen Klirrens beraubten Stimme. »Ich kannte einen Jungen aus dem Nachbarort, Ben. Er kam aus schlechtem Hause, meine Eltern hatten mir den Umgang mit ihm verboten. Wir haben uns heimlich getroffen. Ich sagte, ich gehe ins Kino, treffe eine Freundin, hab Geigenunterricht. Irgendwas fiel mir immer ein. Wir waren beide siebzehn, wir wollten zusammen durchbrennen, heiraten in Gretna Green. Wir waren sehr verliebt, dein Vater und ich.«
»Mein Vater? Aber Vater hieß Kurt.«
»Kurt war nicht dein Vater.«
»Mein Vater war nicht mein Vater? Aber du hast doch immer gesagt, ich hätte ein ebenso weibisches Gesicht wie er, ich sei genauso linkisch.«
»Kurt war nicht dein Vater!«
»Und
Weitere Kostenlose Bücher