Zungenkuesse mit Hyaenen
Lebenserwartung und Lebensqualität von Querschnitten inzwischen war, verglichen mit dem Ersten Weltkrieg. Er wollte nicht wissen, dass er, statistisch gesehen, binnen einem Jahr an den neuen Zustand vollkommen adaptiert und fast ebenso glücklich sein werde wie zuvor. Er war kein Querschnitt. Er war ein Mann. Ein Mann, verdammt!
Eleonore, die Nachtschwester, eine dunkelhaarige, zierliche Person mit einem Häubchen, das an Lazarettfilme erinnerte, musste ihn manchmal nachts wieder ins Bett heben, wenn er hatte »aufstehen« wollen. Steh auf und wandle, hatte er sich angetrieben, irre wie Büchners Lenz, mit zusammengepressten Zähnen. So hatte er die schlaffen Beine mit den Händen über die Bettkante gestoßen, mit einem Kampfeswillen, der seinesgleichen suchte.
Eines Abends war Schwester Eleonore bei der Anstrengung, ihn zurück ins Krankenbett zu hieven, auf ihn gefallen. Hoppla. Er hatte ihren Atem gerochen, hatte ihren Mund irritierend nah vor seinem gesehen, er hatte ihren Kopf genommen und an ihrem Häubchen gezogen, das jedoch mit Haarklemmen in ihrem Haar verankert gewesen war. Sie hatte leise aua gesagt, sich aber darüber hinaus nicht geregt. Sie war gleichsam in einer abwartenden Haltung über ihm erstarrt und hatte die Augen geschlossen.
Seine Hände gehorchten ihm noch, sein Mund, seine Worte gehorchten ihm noch. Sein Eros war da. Er sah nicht schlecht aus, er war mit Abstand der bestaussehende ihrer Patienten. Er hatte die Macht, in diesem Moment hatte er die Macht. Es hätte schlimmer kommen können. Schwester Eleonore, ob aus Mitleid, ob aus Neugier, ließ sich von ihm küssen.
Das war Müllers erster körperlich erfahrener Impuls gewesen, weiterzuleben. Die Vitalität saß überm sechsten Rückenwirbel, die war nicht totzukriegen, die saß im Herz und im Kopf. Alle erotischen Schlachten wurden dort geschlagen, im Herz und imKopf. Er spürte, dass in ihm etwas Unverwüstliches saß, ein Kern von Festigkeit, der alles überstanden hatte. Er wusste noch nicht, wie man zurechtkommt in einer Welt, die schon zu Fuß schwer zu durchmessen war, aber er würde es herausfinden, und wenn es irgend zu schaffen war, dann würde er es schaffen, wenn einer, dann er, wenn nicht stehend, dann eben sitzend, wenn nicht laufend, dann eben rollend. Von dieser Nacht an, in der Eleonore seine Libido wachgeküsst hatte, hatte Müller Schwerstarbeit im Rollstuhl geleistet. Er musste dieses Instrument zu einem Teil seines Körpers machen. Er musste so unabhängig wie möglich werden. Schon allein, um Eleonore zu beeindrucken, Eleonore und all die anderen Weiber. Die Welt war voller Weiber, die zu höflich waren oder zu neugierig oder zu schwach, zu einem Mundwerksburschen im Rollstuhl nein zu sagen.
UND EWIG LOCKERT DAS WEIB
»Let’s talk business«, sagte Müller zu David, als dieser sich zum Aufbruch rüstete. Die beiden verließen den Raum. David hielt die Tür auf, um Müller Vorfahrt zu lassen. Am Türrahmen lag für einen Moment seine Hand mit dem schweren goldenen Ring. Jetzt konnte ich es deutlich erkennen: der Ring hatte die Form eines Sargs. Er sah genauso aus wie der Ring, den Müller vorher aus seiner Sakkotasche gezogen hatte. Auch jemand anders hatte ihn getragen. Wer war das noch? Ich scannte in Gedanken die Hände aller Menschen durch, die ich kannte. Ein Erinnerungsblitz schlug ein. Eine Hand, die über einen Bart streicht. Aber wessen Hand? Wessen Bart? Wer hatte einen Vollbart? Big Ben! Big Ben hatte den gleichen Ring. Big Ben, David, Müller. Was verband diese Männer? Welche Geschäfte machten sie miteinander? Wer gehörte noch dazu? Götz George? Wenigspäter kamen Müller und David zurück. David und Kuki verabschiedeten sich, angeblich, weil sie auf eine Modenschau eingeladen waren.
»Die Karawane zieht weiter«, rief Müller Kuki nach.
»Fick schön«, rief sie zurück.
»Ach so«, sagte David an der Tür und winkte mich heran. »Kommst du gleich mit?«
Ich schüttelte den Kopf. David grinste dreckig.
»Schöner Ring«, sagte ich.
»Ein Giftring«, sagte David.
»Ein Giftring? Zeig mal!«
David hielt mir seine Hand hin. Der Sarg auf dem Ring hatte ein Scharnier, er schien hohl zu sein, ein Geheimversteck. Im Edgar-Wallace-Film »Die seltsame Gräfin« trägt Lil Dagover einen solchen Ring. Ich versuchte, den Sarg zu öffnen, aber David zog die Hand weg.
»Ruf mal Gritli an, die versucht schon den ganzen Tag, dich zu erreichen.«
Kuki küsste mich mit heißen Lippen. Ich nahm ihren
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