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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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ißt du nichts«, fragte sie, nachdem sie einen Blick auf meinen Teller geworfen hatte, »es ist gleich elf.«
    »Ich bin nicht hungrig.«
    »Was ist los?«
    »Nichts.«
    »Bist du krank?«
    »Ich bin nicht krank«, sagte ich, »ich muß etwas wissen.«
    Obwohl ich auf den Teller starrte, spürte ich, daß sich etwas verändert oder zumindest verschoben hatte. Ich hörte, wie sie die Luft einzog und anhielt. Was auch immer sie in diesem Augenblick hatte tun wollen, sie tat es nicht.
    »Ja«, fragte sie, »und was?«, und ich hatte den Eindruck, sie wüßte, was nun kommen würde, und wollte sich am liebsten davonstehlen. Ich machte keinen Umweg. Ich nahm keine Rücksichten. Die Ungewißheit, die an mir nagte, trieb mich zur Eile an. Ich fragte: »Wo ist die Uhr?«
    Einen Augenblick schien sie erleichtert. Ich hörte, wie sie ausatmete. Wußte sie etwa nicht, wovon ich sprach?
    Sie sagte: »Welche Uhr?«
    »Die Armbanduhr auf dem Foto.«
    Sie stieß leicht gegen den Tisch. Sie wußte, wovon ich sprach. Ich konnte nicht sehen, ob sich ihre Gesichtsfarbe veränderte, da ich nicht aufschaute.
    »Die Uhr meines Vaters. Die Omega Seamaster . Wo ist sie? Soll ich das Foto holen?«
    »Nein.«
    Ich stellte fest, daß mich ihre Reaktion, ihre Verunsicherung mit Genugtuung erfüllte. Sie legte die Hände auf den Tisch und hob sie gleich wieder. Ich verharrte wie versteinert vor dem leeren Teller, vor der leeren Tasse, vor dem unbenutzten Besteck, vor der gefalteten Serviette. Ich wußte nicht, was in ihr vorging. Ich verstand nicht, was in mir vorging. Ich schwieg. Die Pause, die entstand, war alles andere als beruhigend. Vielleicht war mein Vater jetzt da, ein seelenloser Körper bei uns in dieser Küche. Wahrscheinlich hatte sie mit meiner Frage schon lange gerechnet und dennoch gehofft, sie nie zu hören. Vielleicht war sie erleichtert, endlich damit konfrontiert zu werden und es hinter sich zu bringen. Sie wußte, wovon ich sprach. Wußte sie auch, was in mir vorging?
    Ich wiederholte: »Wo ist die Uhr auf dem Foto? Wo ist diese Uhr?«
    »Wenn er sie noch hat, müßte sie bei deinem Patenonkel sein, von dem wir seit der Beerdigung deines Vaters nichts mehr gehört haben. Ich habe sie ihm nach der Beerdigung gegeben. Danach habe ich nie mehr von ihm gehört, und von der Uhr natürlich auch nicht, kein Lebenszeichen aus Paris. Paris! Mir war sie nicht wichtig. Dein Vater besaß sie bereits, als wir uns kennenlernten. Hätte ich sie deinem Vater geschenkt, hätte ich sie vielleicht nicht weiterverschenkt. Sie bedeutete mir nichts.«
    In ihrer Stimme lag eine gewisse Kälte, und als ich ihr antwortete, glaubte ich dieselbe Kälte in meiner eigenen Stimme wiederzuerkennen.
    »Aber mir ist sie wichtig!«
    »Ja, du hast sicher recht. Natürlich hast du recht. Es war ein Fehler, sie wegzugeben. Das war dumm und unüberlegt. Du warst noch so klein, und ich konnte mir wohl nicht vorstellen, daß du eines Tages erwachsen sein würdest.Das tut mir leid. Ich habe mir erst später gesagt, daß sie dir gehören sollte. Aber da war es zu spät.«
    »Du hättest André bloß zu schreiben brauchen.«
    Sie sah mich an, und ich wich ihrem Blick aus.
    »Ich will sie wiederhaben«, sagte ich, als wäre das leicht zu bewerkstelligen, und zu meiner Verwunderung nickte sie, als wäre sie derselben Meinung. Warum hatte ich bis zu diesem Augenblick eher mit ihrer Verständnislosigkeit als mit ihrem Entgegenkommen gerechnet? Sie gab mir das Gefühl, nichts wäre leichter als die Rückerstattung dieser Uhr.
    »Warum ging die Uhr an ihn?«
    Nach einer Weile sagte sie: »André und dein Vater kannten sich schon so lange und so gut.« Die Kälte war in ihre Stimme zurückgekehrt, und das Einverständnis, das ich zuvor bemerkt hatte, hatte sich verflüchtigt.
    »Was willst du jetzt tun?« »Ich weiß es noch nicht. Ich möchte etwas von meinem Vater besitzen. Warum nicht die Uhr? Es gibt nur diese Uhr, nachdem alles andere verlorenging.«
    Sie blickte aus dem Fenster.
    »Es gibt nur diese Uhr, ich muß sie haben. Eine Uhr wirft man nicht weg. Eine solche schon gar nicht. Ein Erinnerungsstück. Etwas Wertvolles. André kann sie nicht weggeworfen haben. Das tut man nicht. Ich brauche irgend etwas, woran ich mich festhalten kann. Hast du Andrés Adresse?«
    »Ich habe keine Ahnung, wo er wohnt.«
    »Vielleicht in Paris?«
    Sie antwortete zögernd: »Vielleicht in Paris.« »Warum vielleicht? Als er das Foto machte, wohnte er in Paris.« Sie antwortete nicht.

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