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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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Uhr. Einen Augenblick glaubte er, seine sonst stets verläßliche Seamaster sei stehengeblieben. In Schweißgebadet verließ er die Lehrertoilette und fragte sich gereizt, weshalb er sich auf dieses Treffen überhaupt eingelassen hatte. Tatsächlich zeigten auch die Zeiger der großen Schulhausuhr erst auf halb zwölf. Er atmete durch. Sein Verhalten war unangemessen.
    Er kam an dem hellen Fleck vorbei, den das Erbrochene eines Schülers auf dem dunklen Linoleumboden vor der Toilette hinterlassen hatte. Die Spur erinnerte ihn an die Rülpser der Schüler, die den Jungen, der es nicht mehr zum Klo geschafft hatte, fasziniert und angewidert aus gebührender Entfernung nachgeäfft hatten. Um den Geruch zu neutralisieren, hatte der Abwart Sägemehl über das Erbrochene gestreut, bevor er es zusammengekehrt und weggefegt hatte.
    Emil hörte vereinzelte Stimmen von Schülern und Lehrern aus den Klassenzimmern. Irgendwo wurde unisono von einer ganzen Klasse ein Gedicht rezitiert, auswendig vermutlich. Es roch nach Schweiß, Bohnerwachs und faulenden Äpfeln, und in der Luft lag bereits jener erlösende Druck, der sich mit dem Pausenklingeln als an- und wieder abschwellendes Geheul gleich Luft machen würde, das Überbleibsel kindlicher Freude, auf das man sich verlassen konnte. Seltsam, daß ihm als Jugendlicher dieser Geruch unangenehmer gewesen war als heute, da er sich endgültig nicht mehr den Schülern zugehörig fühlte.
    Er versuchte, sich auf den bevorstehenden Urlaub mit Veronika zu konzentrieren, den ersten seit ihrer Hochzeitsreise nach Venedig, die bis auf einige kleine Unstimmigkeiten so glücklich verlaufen war, und er dachte kurz daran, sie vom Lehrerzimmer aus anzurufen. Doch bei der Vorstellung, daß einer der Kollegen ihn beim Telefonieren beobachtete und zuhörte, was er sagte, ließ er den Gedanken wieder fallen. Veronika war jetzt bei seinen Eltern, deren Haus sich in der Nähe des Geschäfts seinesVaters befand. Veronika verstand sich gut mit seinen Eltern, und sein Vater war mit ihrer Arbeit sehr zufrieden. Jemand wie sie, sagte er, habe ihm immer gefehlt und vorgeschwebt, jemand, der etwas von Buchhaltung verstand und nicht begriffsstutzig war. Und darüber hinaus hübsch.
    Nun hatte er das bevorstehende Treffen mit Enz für einige Sekunden doch vergessen. Er trat über die Schwelle des Schulhauses ins Freie. Es war wärmer, als er erwartet hatte, ein heißer Nachmittag stand bevor. Von diesem Augenblick an war das Gesicht des jungen Mannes, den er gleich treffen sollte, wieder präsent. Daß es ihn bis an sein Lebensende begleiten und wie eine unsichtbare Folie über sein eigenes Gesicht legen würde, ahnte er nicht. Er konnte nicht umkehren. Er konnte nur vorwärts gehen. Er hatte versprochen, mit ihm zu reden, das würde er jetzt tun.

    Äußerlich hat sich nichts geändert. Sie sind, wie seit langem geplant, in die Ferien nach Frankreich gefahren. Sie haben den kleinen hellblauen Fiat mit Sachen für drei Wochen vollgepackt und sind losgefahren. Alles gut vorbereitet, vor allem die Reise. Veronika hat sich um Landkarten gekümmert und Prospekte besorgt. Sie kennt die Route im großen und ganzen auswendig. Sie sind nicht losgefahren, ohne vorher noch einmal bei Veronikas und Emils Eltern vorbeizuschauen, um sich zu verabschieden. Niemand von ihnen hat je eine so weite Reise unternommen. Vielleicht schon einmal daran gedacht, aber nie ausgeführt. Emils Vater etwa, der leidenschaftliche Autofahrer. Er hat schon so manchen Reiseplan gehegt und auf später verschoben.
    Alles wurde in den verschiedenen Haushalten ausgiebig besprochen. Emil hielt sich zurück, wie immer, darüber wunderte sich niemand. Er kann seine Freude sowenigzeigen wie seine Aufregung, denken sie. Emils Mutter ist für einen kleinen Eingriff im Krankenhaus angemeldet, kein Grund zur Beunruhigung, sie ist guter Dinge, der Arzt auch. Nichts, weswegen man diese Reise verschieben oder absagen müßte. Niemand denkt auch nur im Traum daran, daß sie in anderthalb Jahren nicht mehr leben wird. Das ist so lange hin. Was sie wirklich empfindet, behält sie für sich. Ihr ist die ganze Sache peinlich. Das Hotel ist gebucht. Auch dafür ist längst gesorgt. Eine Freundin Veronikas arbeitet bei einem großen Reisebüro, man kann sich darauf verlassen, daß es sich bei dem Hotel nicht um eine Absteige handelt. Dabei ist es bezahlbar, denn große Sprünge können die jungen Eheleute natürlich nicht machen. Emils Gehalt und Veronikas Zubrot

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