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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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unüberwindbarer Abgrund. Was sich wie ein Verbindungsstück anfühlt, ist in Wirklichkeit die Klinge, die sie trennt. Er ist in Gedanken nicht irgendwo, sondern genau dort, wo er sein will. Es ist nicht so, daß er abschweift, er konzentriert sich nur auf etwas anderes als seine Frau.
    Er konzentriert sich auf André, auf Andrés Schenkel, auf Andrés Bauch, auf Andrés Hände. Auf die Hände vor allem. Dann sieht er sein Geschlecht, groß, stark, bezwingbar. Er hat es oft genug berührt. Er hat dies alles gut in Erinnerung.
    Doch dann hält ihn nichts mehr davon ab, an Sebastian zu denken. Sebastian ist anders als André. Zwischen ihm und André war stets eine deutlich markierte Grenze. Sebastian aber überflutet ihn. Er hat ihm die Hand gegeben. Im Gegenzug erhielt er seinen ganzen Körper. Wie das geht? Er weiß es nicht. Er hat seinen Arm berührt. Es ist, als käme er jetzt auf ihn zu, indem er aus ihm selbst heraustritt und sich ihm Auge in Auge gegenüberstellt.
    Sie hatten einander bei ihrer ersten Begegnung vor einer Woche nicht gegenübergesessen, sondern Seite an Seite, so hatte es sich ergeben. »So daß wir hinausschauen können«, hatte Sebastian gesagt, nachdem er sich geräuspert hatte. Er hatte Emils Hand ertastet, und sein Zeigefinger war unter das Lederband und die Uhr geglitten und dort, wo das Handgelenk aufgrund des Drucks und der Reibung wärmer und feuchter war, langsam hin und her gefahren,und mit gesenkter Stimme hatte er ihm erklärt, der Gegensatz zwischen dieser und den übrigen Hautstellen entspräche dem Gegensatz zwischen den unbekleideten und bekleideten Teilen des Körpers, mit dem Unterschied, daß man diesen hier berühren dürfe, ohne daß man damit rechnen müsse, öffentlich ausgepeitscht zu werden, was er mit erregender Ausdauer getan hatte, während das bei allen anderen verborgenen Körperstellen unmöglich sei, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, und sein Zeigefinger war weiter zwischen Haut und Uhrenband hin und her gefahren, während sie nebeneinander auf der Bank im Café gesessen hatten, in einer Ecke, wo sie den Blicken der anderen weniger ausgesetzt gewesen waren als im Zentrum des Lokals oder am Fenster. Er hatte mit Emils Verständnis gerechnet.
    Die Haut unter dem Band war feucht vom Schweiß des Verhüllten wie jene anderen Stellen, die zu berühren ihnen verwehrt war, die zu berühren sie aber kaum abwarten konnten, obwohl sie sich eben erst kennengelernt und einander noch nichts eingestanden hatten. Später hatte Sebastian während ihrer Unterhaltung den Zeigefinger in den Mund geschoben. Ob es zufällig oder absichtlich geschah, spielte keine Rolle.
    Erst als Veronika flüstert: »Willst du nicht die Uhr ausziehen«, fällt ihm auf, daß er den Zeigefinger unter sein Uhrenband geschoben hat wie Sebastian vor einer Woche. Er löst das Band und legt die Uhr neben das Bett.
    Sie haben sich erst über Berger, dann über Sebastian unterhalten, der noch bei seiner Mutter lebt, die arbeiten geht, weil das Geld nicht reicht, das der Vater, der sie vor Jahren verlassen hat, selten genug überweist. Mit wenigen Worten schien zwischen ihnen alles klar zu sein. Sebastians Schwierigkeiten mit Berger, die nicht außergewöhnlich sind, haben ihm lediglich als Vorwand gedient, Emilanzurufen und zu treffen. Sebastian hat es nur indirekt ausgesprochen, aber er hat es doch irgendwie ausgesprochen, als er meinte: »Ich wollte dich sehen. Ich weiß Bescheid.« Und Emil gab sich nicht die Mühe, ihm zu widersprechen. Wozu auch? Die Wahrheit war auf Sebastians Seite. Emil hat sein Draufgängertum bewundert, das so gar nicht zu dem jungen Mann paßte, den er in Erinnerung hatte.
    In der Nacht vor der Abreise in den Süden haben sich die beiden heimlich getroffen. Veronika wußte nichts von ihrer Verabredung. Insofern kann man sie heimlich nennen. Am Ende, als auch Veronika den Höhepunkt überschreitet, empfindet er einen Schmerz, der ihn aufheulen läßt. Veronika ist offenbar zufrieden. Sie liegen noch eine Weile aufeinander. Es war die Angst, ihn nie mehr zu sehen und nie mehr zu berühren, die ihn aufschreien ließ. Ebensoviel Groll wie Sehnsucht. Aber er wird ihn wiedersehen. Daß sie sich geküßt haben, ist keine Einbildung. Die Hand unter seinem Hemd und auf seinem gespannten Geschlecht war keine Illusion. Er tastet nach seiner Uhr. »Was suchst du? Ach so, deine Uhr.« Sebastian hat einen Platz in seinem Leben eingenommen, den er nun so vollständig ausfüllt, daß Emil

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