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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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regelmäßig in Ihr Schulhaus, um mich fortzubilden. Ich habe Sie schon öfter gesehen. Wir sind uns kurz vorgestellt worden.« »Ja, ich erinnere mich.«
    Ein Bild blitzte auf, das im Lauf des Gesprächs, das sie nun führten, bald deutlichere Konturen annahm, auch wenn er zunächst nicht völlig sicher war, daß das schmale Gesicht tatsächlich zu der Stimme gehörte, die in die Muschel des anderen Hörers sprach. Enz, etwas jünger als er, war einer der Lehramtskandidaten aus dem Lehrerseminar, die von älteren Kollegen betreut wurden, die sie in die Unterrichtspraxis einwiesen, wie auch er eingewiesen worden war, und über die Tücken informierten, die immer dann drohten, wenn man die Zügel schleifen ließ. Der zuständige Betreuer war Berger, der Rektor, und Emil konnte sich vorstellen, mit welchen Schwierigkeiten Enz zu kämpfen hatte. Ein Anzeichen von Schwäche genügte, um Bergers pädagogisches Sendungsbewußtsein auf den Plan zu rufen.
    »Jetzt erinnere ich mich«, sagte Emil. Er war ihm zwischen Tür und Angel vor dem Lehrerzimmer begegnet. Bergerhatte sie bekannt gemacht. Kaum hatte er ihm die Hand gegeben, hatte er sich auch schon abgewendet, um Berger zu folgen.
    »Und das ist mein Problem. Ich meine Berger, mein Mentor«, sagte Enz, »ich wollte mit jemandem darüber sprechen, der ihn kennt und dem ich vertrauen kann.«
    »Und warum gerade mir? Ich bin doch selber ein Anfänger.«
    »Ich würde gern mit Ihnen über ihn sprechen, weil ich den Eindruck habe, daß Sie mir helfen können.«
    Sie verabredeten sich für den übernächsten Tag in einem nahe gelegenen Café, in dem sich Emil während seiner Freistunden und mittags hin und wieder aufhielt. Enz’ letzte Vormittagsstunde, die er unter Bergers Aufsicht abhalten würde, war kurz vor zwölf zu Ende. Er würde im Café auf ihn warten. Die Aussicht, dort anderen Kollegen zu begegnen, war gering, da die Schüler am Mittwochnachmittag schulfrei hatten und ihre Lehrer mittags sofort nach Hause gingen. Veronika arbeitete von dienstags bis donnerstag im Büro ihres Schwiegervaters, wo sie auch zu Mittag aß.
    Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, kaum war die Stimme verklungen, als das Bild des jungen Mannes wieder wegtauchte, doch je schwächer es war, desto drängender wurde Emils Gefühl, ihm etwas mitteilen zu müssen, was für beide wichtig war. Diese durch nichts gerechtfertigte, aus der Luft gegriffene starke Empfindung verfolgte ihn bis tief in die Nacht und in den Schlaf hinein, obwohl er nicht hätte sagen können, was er seinem Gesprächspartner hätte sagen sollen.
    Am nächsten Morgen hielt er zwischen den Unterrichtsstunden nach dem jungen Lehrer Ausschau, aber der zeigte sich nicht, er sah ihn weder auf dem Schulhof noch im Lehrerzimmer. Emil verzichtete darauf, sich bei Bergernach ihm zu erkundigen, weil er dessen Augenmerk nicht unnötig auf den Seminaristen lenken wollte. Er wollte ihn schützen, ohne zu wissen, wovor, vielleicht auch nur sich selbst.

    Kurz vor dem Treffen packte ihn eine solche Nervosität, daß er kurz davor stand, abzusagen. Hätte er einen überzeugenden Vorwand gefunden und wäre es ihm gelungen, den jungen Mann auf dem Schulgelände abzufangen, hätte er es vielleicht getan. Doch Enz ließ sich nicht blicken. Und da Berger nichts von ihrer Verabredung wissen sollte, war es unmöglich, ihn nach dem Verbleib zu fragen. Seine Nervosität konnte er sich ebensowenig erklären wie Enz’ Bitte, sich mit ihm zu treffen.
    Er ertappte sich dabei, wie er einen Blick in den Spiegel warf, der ihm eine Antwort auf die Frage geben sollte, wie er auf Enz wohl wirken würde, wenn er ihm gegenübertrat, schon etwas gesetzt oder noch jugendlich, aufgeschlossen oder eher abweisend, ziemlich locker oder gehemmt? Er hatte noch mehr als eine halbe Stunde Zeit, sich Gedanken zu machen, die zu nichts oder zu noch größerer Verunsicherung führten, und es verging keine Minute, in der er es nicht tat. Es war unmöglich, sich in jemanden zu versetzen, den man nicht kannte. Es war unmöglich, sich mit den Augen eines Fremden zu sehen. Er wußte es, versuchte es aber trotzdem, obwohl er in diesem Augenblick, anderthalb Tage nach ihrem Telefongespräch, nicht einmal mehr wußte, wie Enz eigentlich aussah.
    Er beugte sich über das Waschbecken, ließ Wasser in seine Handflächen laufen und kühlte sein Gesicht. Die Schulter tat ihm weh. Je mehr er sich anstrengte, locker zu wirken, desto verspannter wurde sein Körper. Emil blickte auf die

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