Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
sind bescheiden, aber sie haben für diesen Urlaub gespart. Das Hotel, in dem sie drei Wochen lang wohnen werden, macht auf dem Prospekt einen sehr ordentlichen Eindruck. Ob es so sauber ist, wie man es sich wünscht, wird sich aber erst an Ort und Stelle erweisen, wenn man in die Ecken schaut, sagt Emils Mutter. Etwas Ähnliches sagt Veronikas Mutter. Ihre Freundin beim Reisebüro hat versichert, jedes Hotel, das sie anbiete, sei von einer vertrauenswürdigen Person vor Ort begutachtet und eingestuft worden. Sie selbst ist schon weit in der Welt herumgekommen und hat nur gute Erfahrungen gemacht: Spanien, Italien und Frankreich, als nächstes Nordamerika. Veronika vertraut ihrer reiselustigen Freundin, die das Angenehme mit dem Beruflichen verbindet, und Emil vertraut Veronika.
Sie erreichen ihr Ziel in der Nähe der spanischen Grenze nach zwei Übernachtungen und fast drei Tagen Reise, erschöpft, aber zufrieden.
Veronika fährt nicht Auto, aber sie spricht oft davon, es eines Tages lernen zu wollen. Erst will sie ein Kind, denkt Emil.Emil, den es keine große Mühe gekostet hat, die Fahrprüfung zu absolvieren, fährt gern, und er fährt sicher, manchmal etwas zu schnell, wie Veronika anderen gegenüber behauptet, aber was heißt schon schnell, fügt sie dann immer hinzu und lacht. Sie fühlt sich sicher, wenn er fährt, selbst wenn er zu schnell fährt, wenn er die angezeigten Tempobeschränkungen mißachtet. Sie sieht es auf dem Tacho, sagt aber nichts. Der Gedanke, drei Wochen im Sand und in der Sonne zu liegen, ist so abwegig und ungewohnt, daß sie sich gar keine richtige Vorstellung davon machen können, wie es sein wird und was sie den ganzen Tag tun werden. Sie haben Halbpension gebucht, wie alle, die dort wohnen, anders ging es gar nicht, sie haben Bücher eingepackt und Sonnenmilch, Badehosen, Bikinis und Sandalen, leichte und weniger leichte Sachen zum Anziehen, zum Ausgehen abends das, was Veronika fein oder elegant nennt. Sie waren in Venedig, aber das kann man mit den großen Sommerferien, die jetzt vor ihnen liegen, unmöglich vergleichen. Das war die Hochzeitsreise, dies hier ist Sommerurlaub. An der spanisch-französischen Grenze erwarten sie weder Kirchen noch sonstige Sehenswürdigkeiten, auch keine Sprache, der sie kaum mächtig waren. Sowohl Veronika als auch Emil sprechen gut Französisch, Veronika mit Akzent, aber verständlich. Sie können sich mehr als nur durchschlagen.
Weder Emil noch Veronika waren je im Süden, weder im Süden von Italien noch von Frankreich. Was vor ihnen liegt, ist Neuland. Vielleicht, so haben sie sich ausgemalt, werden sie auch über die Grenze nach Spanien fahren. Ein Land, dessen Diktator mit Hitler verbündet war, wie Emil Veronika erklärt. Sie staunt. Hitler ist ihr bekannt, mit diesem Namen ist sie aufgewachsen, von dem anderen hat sie noch nie gehört. Hitler ist tot, der dort lebt noch. Emil ist gar nicht sicher, ob man so einfach über die Grenze nachSpanien reisen darf. Der Ort, an dem sich ihr kleines Hotel befindet, heißt Collioure. Veronika kann sich nicht viel mehr darunter vorstellen als das, was sie auf den Prospekten gesehen hat, Berge und Hügel, Wasser und eine romantische Stadt, die keine Ähnlichkeit mit einer Schweizer Stadt hat.
In Collioure angekommen, lassen sie sich das Zimmer im Hotel du Midi zeigen. Emil erklärt ihr, mit Midi sei nicht die Mittagszeit, sondern der südliche Teil des Landes gemeint. Sie macht seine Erschöpfung dafür verantwortlich, daß er ihr das nicht zum ersten Mal erzählt. Sie sind nicht in den Süden, sondern in den Midi gefahren, würde ein Franzose sagen. Sie beziehen das Zimmer. Gelbe Vorhänge und Steinböden, ein eigenes Badezimmer, davor eine kleine Diele. Sie sind mit dem Zimmer und mit der Aussicht aufs Meer sehr zufrieden, obwohl es, anders als versprochen, nicht über einen Balkon verfügt. Der Blick muß genügen, Emil beschwert sich nicht bei der Direktion, obwohl er sich darüber ein wenig ärgert. Er hatte sich vorgestellt, nachts aufzustehen und vom Balkon aus aufs Meer und in den Sternenhimmel zu blicken, wenn er nicht schlafen kann. Veronika wird es aber ihrer Freundin beim Reisebüro melden.
Statt sich, wie Emil vorschlägt, erst einmal ans Meer zu setzen, um die ungewohnte, herrliche Aussicht zu genießen, will Veronika jetzt erst einmal auspacken und die -Sachen einräumen, um das hinter sich zu bringen, wie sie sagt. Emil ist einverstanden und nickt. Er geht zum Auto und trägt die
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