Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
gesichtslose Puppen und satte Popanze. Er wußte, wie ungerecht er war, daß unter ihnen auch nette und fähige Lehrer waren. Niemand zwang ihn zu sein wie sie. Aber würde ein Fremder, der hier hereinkäme, den Unterschied bemerken?
»Wogehen Sie nur hin, wollen Sie nicht ein Stückchen Torte?«
Er ließ den Rektor stehen und sagte kurz angebunden: »Aufs Klo.«
Er wollte nicht ausfällig werden, er wußte, daß er dabei war, die Schwelle zur Unhöflichkeit zu überschreiten. Sein Verhalten war unangemessen, er war sich darüber im klaren. Er wollte und konnte sie nicht besser verstehen. Er konnte und wollte in ihren Blicken nicht lesen. Er wich ihnen aus. Er umging jeden engeren Kontakt. Veronika fragte hin und wieder, inzwischen schon seltener, nach seinen Kollegen, und er gab ausweichende Antworten.
»Wir könnten eine Party veranstalten«, hatte sie einmal vorgeschlagen, »eine Party unten im Hof zum Beispiel, mit den anderen Hausbewohnern, mit Lampions und Würstchen, vielleicht dürfen wir Musik machen.« »Wozu Musik?«
Es fiel ihm nicht ein, seine Kollegen einzuladen. »Auf gar keinen Fall«, hatte er gesagt, und Veronika hatte ihn nicht gedrängt, sie drängte ihn nie, sie verlangte keine Erklärungen, sie kam einfach nicht mehr darauf zurück. Sie hielt es inzwischen vielleicht selbst für eine eigenartige Idee. Lampions, Mitbewohner und Kollegen in einem Hinterhof versammelt, der nach Feuchtigkeit und Küchenabfällen roch, in den kein Sonnenlicht fiel und in dem nichts wuchs, entsprach ziemlich genau seinen Vorstellungen von der Welt jenes gewöhnlichen Lebens, das er einst geglaubt hatte hinter sich lassen zu können und in dem er nun sein eigener Aufpasser geworden war.
Er unterrichtete seit einem Jahr. Er tat es gern, aber er sprach nicht gern darüber. Man hielt ihn für einen begabten Lehrer. Er hatte das Ziel, das er sich gesteckt hatte, bereits erreicht.
Im Gegensatz zum Lehrerzimmer hatte der Pausenhof mitden alten Platanen nichts Bedrohliches an sich. Selbst die Jungen, die Streit suchten – es waren immer dieselben – und es darauf anlegten, innerhalb kürzester Zeit Schlägereien anzuzetteln, machten ihm weniger Angst als die Kollegen drinnen, die ihn unentwegt daran erinnerten, wie seine eigene Zukunft aussah. Während die einen der Inbegriff dessen waren, was ihn erwartete, verkörperten die anderen den Elan der Jugend, die noch nicht wußte, was aus ihr werden würde. Und so ertappte er sich dabei, sie um ihre unbändige Sorglosigkeit zu beneiden. Die ersten Anzeichen von Männlichkeit – sich allmählich entwickelnde Muskeln, flaumiger Bart, hilflose Störrigkeit, brüchige Stimmen und lästige Pickel – trugen sie mit dem Stolz siegesgewisser Eroberer. Sie übten sich im Erwachsensein, als hätten sie es schon erworben, als hätten sie die Welt im Griff. Es gab auch andere, die ihm ähnlicher waren. Stille, deren bescheidenem Wesen er mißtraute. Er zwang sich, sie zu übersehen. Gehemmte, sagte er sich und verachtete sie insgeheim. Sie würden auf ihre Weise im Lauf der Zeit verlieren, wie er verloren hatte, irgend etwas, wovon sie geträumt hatten und was sie nie erreichen würden, wie er es nicht erreicht hatte.
Wenn er die Streithähne dazu anhielt, sich zu trennen, erst mit Worten, dann indem er nötigenfalls selber handgreiflich wurde, war er für Augenblicke wieder einer von ihnen, obwohl er sich in seiner Schulzeit nie in Schlägereien hatte hineinziehen lassen. Es machte ihm Spaß, der Stärkere zu sein, auch wenn es nicht seine Kraft, sondern bloß seine Stellung war, die ihm die Macht verlieh, sich durchzusetzen.
Veronika hielt ihm den Hörer hin und sagte: »Für dich.« Die Stimme am anderen Ende kannte er nicht. »Mein Name ist Enz, ich wollte Sie nicht belästigen.« Er hatte diesenNamen nie gehört. »Aber jetzt, wo ich Sie anrufe, tue ich es ja doch, entschuldigen Sie.«
Emil fragte ihn, ob er der Vater eines Schülers sei, obwohl er sicher war, daß kein Schüler dieses Namens seinen Unterricht besuchte, aber vielleicht hatte er sich verhört, und irgend etwas mußte er schließlich sagen. Die Stimme klang unaufdringlich, fast schüchtern, und er wollte nicht abweisend wirken. Zudem war er guter Laune, da in weniger als einer Woche die Sommerferien begannen.
»Tut mir leid, ich kann mich nicht an Sie erinnern.« »Macht nichts, ich erkläre Ihnen das. Ich bin Seminarist in Ihrem Schulhaus. Ich bin dem Rektor zugeteilt und komme deshalb seit drei Wochen
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