Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Koffer, die ihm jetzt schwerer erscheinen als beim Einladen, über zwei Stockwerke durch ein offenes Treppenhaus hinauf. Es ist heiß, er schwitzt, aber die Vorstellung, bald im Meer zu schwimmen, zum ersten Mal das salzige Wasser auf seiner Haut zu spüren, läßt ihn wieder zu Kräften kommen. Wie warm mag es draußen sein,dreißig, fünfunddreißig Grad? Auf der Treppe begegnet er anderen Hotelgästen, leicht bekleideten, vergnügten und braungebrannten Urlaubern, die vielleicht gerade vom Essen kommen.
Später liegt Emil auf dem Bett, sieht zur Decke und sagt leise, aber so, daß Veronika es hören kann: »Sehr schön, wirklich sehr schön.« »Wunderbar«, sagt Veronika, als wolle sie ihn korrigieren, und verstaut das, was sie mitgebracht haben und was sie nun schnell und effizient auspackt, im Schrank. »Wir haben zu viel mitgenommen, viel zuviel«, meint Veronika und stellt fest, daß Emil abwesend wirkt, kein Wunder nach der anstrengenden Fahrt. Eines Tages wird man die Strecke zweifellos in kürzerer Zeit bewältigen. Wann, ist noch ungewiß, aber das wird kommen, die Zeichen stehen gut, sagt Emils Vater, sagt jeder, der etwas davon versteht. Dazu müssen aber erst Autobahnen wie in Japan und Amerika gebaut werden. Für so etwas interessiert sich Emil nicht.
Sie sieht zum Bett und bemerkt, daß Emil die Augen zugefallen sind. Er muß eingeschlafen sein. Am liebsten würde sie sich jetzt auf der Stelle neben ihn legen und ebenfalls die Augen schließen. Zuvor wird sie ihm aber noch sagen, wie glücklich sie ist, daß er so sicher gefahren ist und sie heil hierhergebracht hat. Nichtstun ist eine ungewohnte Erfahrung. Statt dessen schaut sie aus dem Fenster aufs Meer hinaus. Plötzlich hat sie den Eindruck, allein im Zimmer zu sein. Dieses Gefühl hält glücklicherweise nicht lange an, nur so lange, bis Emil sagt: »Leg dich doch hin.« Sie wendet sich um und sieht, daß er sie ansieht und lächelt. »Ich dachte, du schläfst«, sagt sie. Er schüttelt den Kopf. Das schreckliche Gefühl von vorhin ist verschwunden. Sie weiß nicht, woher es kam, und nun, da es weg ist, braucht sie sich keine Gedanken darüber zu machen, warum es da war. Urlaub, Sonne und Meer beherrschenalles. Auch ihr ist warm. »Morgen machen wir hier die Läden zu«, sagt sie, erst morgen wird sie merken, daß es gar keine Läden gibt.
Es ist viel wärmer, als sie es sich zu Hause hatten vorstellen können, so warm ist es zu Hause nur ausnahmsweise, an wenigen Hundstagen im August. Bereits in der ersten Urlaubsstunde im Hotelzimmer wird ihnen klar, daß sie einander drei Wochen lang nicht aus dem Weg gehen können. Eine Situation, der Veronika, sofern sie ihr überhaupt bewußt ist, eine andere Bedeutung beimißt als Emil. Hier ist das Leben anders als dort, hier findet ein Aufschub statt, eine Unterbrechung, die die Zeit verlangsamt. Sie werden beide viel in der Sonne liegen und lesen.
Obwohl Emil am Ende dieser Autofahrt, während der sie Hunderte von Kilometern hinter sich gebracht haben, erschöpft ist, läßt er es zu, daß Veronika ihre Hand auf seinen Bauch legt, nachdem sie sich neben ihn aufs Bett gesetzt hat. Er weiß, was sie will. Sie legt sich hin und schmiegt sich an ihn wie eine Katze, und er wehrt sich nicht dagegen. Gegen eine Katze hätte er nichts einzuwenden, aber auch Veronikas Gegenwart ist ihm nicht unangenehm. Dennoch wäre es ihm lieber, sie würde das jetzt nicht tun, nicht nur, weil er müde ist. Es fällt ihm nicht schwer, ihr vorzumachen, daß es ihm gefällt, von ihr berührt zu werden. Sie tun nichts anderes, als was andere Ehepaare auch tun. Es kommt selten vor, daß sie tagsüber Sex haben, schon gar nicht an einem Werktag. Sex ist ein Wort, das keiner von ihnen in Gegenwart des anderen je ausgesprochen hat und je aussprechen wird. Es hat auf ihn die Wirkung, die es haben soll, sobald er daran denkt. Er glaubt nicht, daß es ihr genauso ergeht. Er will sie nicht fragen. Emil hat Französisch studiert. Er kennt die Sprache gut genug, um zu wissen, was das Wort auf Französisch bedeutet. Le sexe ist männlich. Als Veronika ihre Hand auf seinGlied legt und ihm damit zu verstehen gibt, was sie von ihm erwartet, obwohl sie erst so tut, als habe sie es eher zufällig berührt, schließt Emil die Augen und dreht sich zu ihr um.
Als Emil in sie eindringt, ist er in Gedanken nicht bei ihr. So ist es fast immer. Er glaubt keinen Augenblick, daß sie ihm je auf die Schliche kommen wird. Zwischen ihnen liegt ein
Weitere Kostenlose Bücher