Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
mir und meinem Zugriff auf die Wahrheit. Ich blätterte zum Samstag, obwohl ich wußte, daß mein Vater am Sonntag gestorben war, aber wie konnte ich sicher sein, daß man mich nicht auch bezüglich des Datums belogen hatte? Ich fand weder am Samstag noch am Freitag noch am Donnerstag der vorangegangenen Woche auch nur eine Zeile, die einen unwiderlegbaren Zusammenhang zwischen den beiden Todesanzeigen, dem Tod zweier junger, im Schuldienst beschäftigter Männer, und meiner Vermutung herstellte. Es war, als hätten die beiden erst zu existieren begonnen, als man ihren Tod bekanntgegeben hatte.
In einem unbeobachteten Augenblick tat ich etwas, womit ich mir, wäre ich erwischt worden, mindestens einen Verweis, wenn nicht ein langfristiges Zutrittsverbot eingehandelt hätte. Ich sah mich rasch nach allen Seiten um und wartete, bis die Lesesaalaufsicht mit einem Studenten beschäftigt war, dann legte ich meinen linken Unterarm über den Innenfalz des Zeitungskonvoluts und trennte die Seite mit den Todesanzeigen entlang des ausgestreckten Arms vorsichtig heraus. Der Ärmel dämpfte das Geräusch, und niemandem fiel auf, was ich tat. Dann ließ ich das herausgerissene Blatt ungefaltet unter meinem Pullover verschwinden und steckte es in den Hosenbund. Langsam stand ich auf und gab den Band zurück. Zu Hause würde ich das Blatt Papier sorgfältig glätten, zweimal falten und hinter dem Bild meines Vaters verstecken, das seit meiner Rückkehr aus Paris wieder am alten Ort stand.
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XI
Emil zog die Pausenaufsicht dem Warten im Lehrerzimmer vor, und das nicht allein wegen der frischen Luft, die er im Lehrerzimmer vermißte, sondern hauptsächlich deshalb, weil es ihm immer schwerer fiel, den Gesprächen der anderen mit der von ihnen erwarteten gehörigen Aufmerksamkeit zu folgen. Er neigte dazu, die Geselligkeit seiner Kollegen zu meiden, was ihm anständiger schien, als sie voller Geringschätzung zu beobachten und nach ständig wechselnden Kategorien einzuteilen. Bei der Vorstellung, er könnte, nach vielen Jahren als Lehrer, wie sie werden, geriet er in eine Art panischen Zustand, der ihm selbst nicht geheuer war. Er versuchte sich den Gedanken, er habe den falschen Beruf gewählt, zu verbieten, aber er tauchte immer wieder auf. Niemals hätte er diesen Gedanken laut ausgesprochen, aber er ließ sich nicht so leicht unterdrücken. Und am allerwenigsten, wenn er während der Pause im Lehrerzimmer saß, wo die Kollegen und Kolleginnen ihre Brote und Kuchenstücke, Lippenstifte und Puderdosen auspackten, Zigaretten oder Pfeife rauchten, in ihren Papieren und Zeitungen blätterten und Gespräche führten, an denen nicht teilzunehmen beinahe unmöglich war, weil selbst die Tatsache, sich abseits in eine Ecke zu setzen und mit etwas anderem, scheinbar Wichtigerem zu beschäftigen, nach Verweigerung oder Arroganz aussah, was es ja tatsächlich war. Er hatte sich in die falsche Richtung begeben, als er den richtigen Weg einschlug. Wasnur ein Bild war, wurde zuweilen so real, daß er die Augen schließen mußte, um es durch Dunkelheit zum Verschwinden zu bringen. Bei Licht betrachtet hatte er es immer wieder vor sich.
»Na, Ott, wo sind denn Sie gerade? Sie denken wohl an Ihre Frau?« Veronika galt in den Kreisen seiner Kollegen als attraktiv und besonders deshalb begehrenswert, weil sie schon vergeben war. Man mußte sich also nicht mehr bemühen.
Wären sie ihm nicht ständig zu nahe getreten, hätte er sich nicht belästigt gefühlt, aber es war kaum möglich, sich ihrem Zugriff zu entziehen, schon gar nicht dem des Rektors, der ihm mit nicht nachlassender Jovialität begegnete. Mochte er es auch gut meinen, wenn er ihn beiseite nahm und sagte, er sei seine größte Hoffnung, er habe den für den Beruf unabdingbaren pädagogischen Impetus, es hatte, wie fast alles, was der Rektor sagte, einen unangenehmen, um nicht zu sagen zweideutigen Beigeschmack. Als warte man nur auf einen Fehltritt, um ihn vernichten zu können. Als lege man ihm die Hände auf die Schulter, um dem Arm näher zu sein, den man ihm auf den Rücken drehen würde, bevor man ihn abführte. Vielleicht tat er ihm unrecht, sympathischer wäre er ihm auch dann nicht geworden.
»Nein, ich denke nicht an meine Frau«, erwiderte Emil und hörte den feindseligen Ton in seiner Stimme erst, als dieser nur noch ein schwaches Echo war. Dem Rektor war die Ablehnung, die darin lag, wohl nicht entgangen.
Wenn er in die zufriedene Runde blickte, sah er
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