Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)
Namen wieder und wieder auf der Zunge zergehen, erst lautlos, später am Strand begann er ihn zu artikulieren, muschelförmig hielt er die Hände vor den Mund. Während er mit halb geschlossenen Augen aufs Meer blickte, die nackten Füße im lauen blauen Wasser, rief er den Namen gegen die schwachen Wellen an, die doch laut genug waren, seine Stimme mitzunehmen und zu versenken. S. Enz. Dann Seb. Dann wieder S. Enz.
S. Enz. Es dauerte nicht lange und nach einem halben Dutzend Wiederholungen hörte es sich auf einmal anders an, S. Enz: Essenz. Essenz war so spröde wie Seb, so sirrend und bissig wie der Scirocco, der ihm am Tag zuvor entgegenschlug, als er aus dem Hotel trat, so züngelnd wie die Sonnenstrahlen, die wie Amors Pfeile seinen Körper durchdrangen, wenn er sich neben Veronika in den heißen Sand oder auf das kühlere Badetuch legte. So anschmiegsam wie der Körper, den er berührt hatte, handsome , cute , wie die Engländer sagen, hübsch. E – Enz – Essenz, er lief ins Wasser hinein, das ihn umfing, in die große Masse, in die er hineinschrie, damit es niemand hören konnte, egal, wieviel Wasser er schluckte, es war das Salz auf Sebastians kühlem Körper, das er sich einverleibte, und das tat gut wie nichts sonst auf der Welt. Er fand Worte für das Erreichte und Gefundene, das Entschwindende und Festgehaltene, Worte, die lange in ihm geschlummert hatten wie die Fähigkeit, einen Menschen so zu lieben wie er diesen liebte, den er kaum kannte. Er war auf die Liebe gestoßen, ohne sie zu suchen, ein Augenblick, ein Blick, zwei Augen hatten genügt. Daß er VeronikaSchmerz zufügte, der sie noch nicht erreicht hatte und nie erreichen durfte, war ihm bewußt, aber seine Freude war größer als sein Bedürfnis nach Rücksichtnahme. Er konnte keine Rücksicht nehmen.
Nachdem er im Zimmer kein sicheres Versteck für Sebastians Briefe gefunden hatte, entschloß er sich, sie dem Portier zur kostenlosen Aufbewahrung im hoteleigenen Safe zu übergeben. Bevor er sie ihm anvertraute, las er sie gründlich, mehrfach, so oft und so lange, bis ihm die wichtigsten Passagen noch im Schlaf geläufig waren. Dort warteten sie auf ihn wie Sebs Gesicht.
Er fuhr mit der Zunge über die Stellen, die Sebs Zunge befeuchtet hatte, und unterdrückte das verrückte Verlangen, die Briefe zu verzehren, statt in fremde Obhut zu geben, wo sie kalt zwischen fremdem Schmuck und abgegriffenen Banknoten liegen würden. Um sich an ihm zu wärmen, hätte er sie verbrennen können. Er tat es nicht.
Statt dessen lag er neben Veronika im Sand und malte sich aus, wie er Buchstabe für Buchstabe inhalierte, Komma für Komma einatmete, Blatt für Blatt verschluckte.
Sebastian schickte Fotos und kleine Zettel, auf denen Dinge standen, die ihm im Lauf des Tages durch den Kopf gegangen waren und die aufzuschreiben offenbar keinen Aufschub duldeten, Beobachtungen, Liebeserklärungen, Gedanken, die er sich über sich selbst, über Emil und ihre gemeinsame Zukunft machte, als ob es diese tatsächlich geben könnte. Emil kaufte am Kiosk feste braune Umschläge, steckte die Briefe hinein und klebte sie zu, bevor er sie François übergab. Er hieß nicht Frédéric.
Die Tage verliefen eintönig, zumindest sah es nach außen so aus. Sie schliefen lange, frühstückten spät, trödelten herum, schlenderten über den Markt, tranken Kaffee im Freien, aßen Croissants, gingen zum Strand, lagen inder Sonne und lasen, schwammen hinaus oder kühlten sich kurz im Meer ab, legten sich wieder auf ihre Badetücher und beobachteten träge und planlos, was um sie herum geschah, um festzustellen, daß kaum etwas geschah, außer daß im Verlauf einer halben Woche die Zahl der Touristen eindeutig zunahm, so daß es immer schwieriger und schließlich ganz unmöglich wurde, einen einsamen Platz an jenem Strand zu finden, an dem sie sich am liebsten aufhielten. Hin und wieder streunten herrenlose Hunde vorbei. Mittags aßen sie nichts oder nur wenig, sie machten tagsüber keine Ausflüge in die Gegend, weil es im Auto viel zu heiß war, und abends aßen sie im Hotel, bevor sie auf der Promenade spazierengingen, wo sich die Fußgänger drängten.
In der Mittagszeit ließ Emil Veronika allein. Sie sah über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg zu ihm auf, er sagte, es sei ihm zu heiß. Er sagte es immer gleich, und sie erwartete es nie anders. Sie streckte sich, zufrieden über ihre Bräune und stolz auf ihre Figur, die, wie sein Vater sagte, nichts zu wünschen
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