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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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übrigließ, und schob die Brille wieder vor ihre Augen. Er warnte sie, zu lange ohne Kopfbedeckung am Strand zu liegen, die Gefahr einzuschlafen sei zu groß, aber er wußte, daß sie seinem Rat, aus der Sonne zu gehen, nicht folgen würde, zumal es keinen Schatten gab, und genau damit rechnete er ja. Sie folgte ihm nicht ins Hotel, dort war er allein.
    Sie sagte, Sonne und Hitze täten ihr gut, egal, ob sie schlafe oder wach sei. Sie »tanke« Sonne für ein Jahr, sagte sie, und er fragte sich, woher sie solche Ausdrücke hatte. Vielleicht von seinem Vater, der sie bei einem Kunden aufgeschnappt hatte. Er stand auf, sie sah zu ihm hoch und blickte ihm nach, wie er sich an den Liegenden vorbei vorsichtig einen Weg durch die halbnackten Menschen, Schirme, Körbe und Handtücher bahnte, bis ihn die flirrendeHitze, in der sein dunkler Körper immer heller wurde, verschluckte.
    Er kehrte ins Hotel zurück, um genau und aufmerksam zu lesen, was Sebastian geschrieben hatte, bevor er sich daranmachte, ihm zu antworten. Er hatte sich Briefpapier und Kuverts besorgt, Bleistifte und Kugelschreiber. Sollte Veronika ihn fragen, wozu er das brauchte, würde er ihr etwas von einem Reisebericht erzählen, den er für seine Schüler verfaßte. Sie würde ihm glauben. Briefmarken besorgte er sich im Tabakgeschäft. Er kannte den nächsten Briefkasten, der ihm von weitem gelb entgegenleuchtete. Er wußte, wann und wie oft er geleert wurde, aber er hatte keine Ahnung, wann die Briefe Sebastian erreichen würden.
    Es waren mehr als Linien und Punkte nötig, um sein schier unerschöpfliches Mitteilungsbedürfnis angemessen zufriedenzustellen. Nie zuvor hatte er so ausführliche und lange Briefe erhalten und geschrieben. Nie zuvor hatte sich der Inhalt eines von ihm geschriebenen Briefs fast ausschließlich darauf beschränkt, über Dinge zu schreiben, die sich noch nicht ereignet hatten. Beide sehnten diese Ereignisse herbei. Nicht mehr lange hin und sie würden stattfinden. Um so mehr er sich sehnte, desto sicherer war er sich seiner Sache. Er konnte Sebastian gegenüber keine Geheimnisse wahren. Da sie wenig voneinander wußten, im Grunde fast nichts, schilderte er ihm auch die Aufenthalte in der Klinik und die Schwärmereien, die dazu geführt hatten und nun aus einer verborgenen Schublade seines Bewußtseins hervorlugten, darauf wartend, erneut hervorgeholt zu werden. Was er schrieb, mochte sich wirr und hochfliegend anhören, es war ihm egal, Sebastian würde verstehen, was er meinte.
    Am vierten Urlaubstag machten sie einen Ausflug in die Umgebung von Banyuls. Bei Sonnenuntergang leistetensie es sich, auf das Essen im Hotel zu verzichten und statt dessen in einem kleinen Ort in der Nähe der spanischen Grenze eine Kleinigkeit zu sich zu nehmen. Die Kleinigkeit, die ihnen der Wirt wortreich empfohlen hatte, erwies sich als üppige Mahlzeit, die – anders als im Hotel – nicht aus drei Gerichten, sondern aus zahlreichen verschiedenen Speisen bestand, die teils nacheinander, teils auch gleichzeitig serviert wurden. Heiße, lauwarme und rohe Speisen, die sie entweder gar nicht oder jedenfalls nie zuvor in dieser Zusammensetzung und so zubereitet gegessen hatten. Seine Küche sei, meinte der Wirt, spanisch, und sie hatten genickt, ohne zu wissen, was das bedeutete. Und nun kamen sie in diesen besonderen Genuß.
    Während Veronika die blutorangefarbene Abendsonne ins Gesicht schien, kam ihm das Wort zum ersten Mal in ihrer Gegenwart über die Lippen, und da die Sonne sie blendete, konnte sie unmöglich sehen, daß Emil vor Überschwang und Scham errötete, als er auf den Teller zeigte und sagte: »Das kommt mir vor wie die Essenz des Südens.«
    Als Veronika ihn fragte, was er damit meine, erwiderte er im vollen Bewußtsein dessen, was er sagte, und mit noch mehr Nachdruck: »Diese Tomaten sind so süß, als hätten sie sich mit Sonne vollgesogen. Man weiß nicht, wonach sie schmecken, sind sie bloß das Fleisch und das Wasser und der Zucker, aus dem sie bestehen, oder sind sie nicht eher der beste Teil der Hitze und Sonne, die sie zum Reifen gebracht und aus ihnen gemacht haben, was sie jetzt sind: Essenz. Sie sind Essenz geworden. Essenz.« Er strahlte übers ganze Gesicht.
    Veronika war es gewohnt, daß er zuweilen gewählte Worte gebrauchte, die sie selbst nie in den Mund genommen hätte. Als auch sie das Wort »Essenz« aussprach – sie sagte: »Ja, du hast recht, es ist sicher die Essenz von alledem«–, staunte Emil über

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