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Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Zur falschen Zeit: Roman (German Edition)

Titel: Zur falschen Zeit: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain Claude Sulzer
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dann?« Da er Veronika in der Nähe des Telefons vermutet hatte, war Emil ihm eine Antwort schuldig geblieben. Ob sie sich sehen würden? »Ja, natürlich.«
    Er und Veronika waren sich einig gewesen: Wenn das Kind einmal da war, würden sie Jahr für Jahr bis an ihr Lebensende gemeinsam Weihnachten feiern. Veronika hatte sich entschlossen, über die Feiertage zu ihren Eltern zu fahren, zum letzten Mal allein. Unterdessen würde Emil seinen Schulfreund in Paris besuchen. In gewisser Weise war André durch die Vermutungen, die anzustellen er unausgesprochen aufgefordert war, in das Geheimnis eingeweiht, ohne Näheres darüber zu wissen. Sollte Veronika bei ihm anrufen, würde ihn sein alter Gefährte gewiß nicht verleugnen. Daß sie in Paris anrief, war aber unwahrscheinlich.
    Da das kleine Hotelzimmer in der Nähe des Odéons bei ihrer Ankunft noch nicht hergerichtet war, konnten sie erst nachmittags einziehen. Ungeachtet der Risiken, sich hoffnungslos zu verlaufen, machten sie sich ohne Stadtplan auf den Weg durch die unbekannte Stadt. Es gab wenig, wonach sie sich orientieren konnten, am ehesten den Fluß, die Brücken und die Sehenswürdigkeiten, die ihn säumten. Um so reizvoller war dieser ziellose Spaziergang, der eher einer Irrfahrt glich. Erschöpft setzten sie sich mittags in ein Restaurant und verplauderten die Zeit bis gegen drei. Als sie sich erhoben und nach ihrem Standort erkundigten, stellten sie fest, daß sie sich ganz in der Nähe ihres Hotels in der Rue de Tournon, einer breiten,ruhigen Straße, befanden, bloß einen Katzensprung vom Odéon entfernt.
    Nie zuvor, weder in Collioure noch in Sebastians Schlafzimmer, waren sie sich näher gewesen als hier, dem Zugriff ihrer Angehörigen völlig entzogen, als hätte sie die Distanz, die sie von zu Hause trennte, unantastbar gemacht.
    Anders als die vielen nutzlosen Gegenstände in Sebastians Zimmer, die für Emil ohne Bedeutung waren, hatten die paar Möbelstücke – ein schmaler Schrank, zwei Stühle, ein winziger Tisch, der vergilbte Druck an der Wand und ein fast blinder Spiegel neben der Tür – für keinen der beiden eine Geschichte außer der, die sich lautlos hier vorbereitete. Mit dem Betreten des an manchen Stellen gewölbten und zerschlissenen gelblichbraunen Linoleums, dessen abgetretenes Muster unzulänglich ein Parkett vorzutäuschen suchte, hatte eine neue Zeitrechnung begonnen. Sie maß jenen Teil ihrer Geschichte, in dem es weder andere Mitspieler noch Zuschauer gab. Wenngleich von kurzer Dauer, war dies die einzig richtige Zeit. Hier lag ein Anfang in Reichweite. An das Ende dachten sie nicht. Warum schafften sie es nicht, die Gelegenheit beim Schopf zu packen und diesen Neubeginn unendlich in die Länge zu ziehen?
    Zum ersten Mal sprachen sie innerhalb dieser vier Wände darüber, zu bleiben. Zu bleiben würde bedeuten, dieses Leben auf unabsehbare Zeit weiterzuführen. Sie redeten darüber, wie es wäre, nicht zurückzukehren, was geschähe, wenn sie die Zelte hinter sich abbrächen und ein neues Leben begännen. Ob es ihnen ernst war, wußten sie selbst nicht genau. Jedenfalls redeten sie so, als könnte es ihnen ernst sein. Aber ihre Pläne blieben in den Anfängen stecken.
    Sie legten sich hin und genossen den Rest des Tages im Bett. Sie hatten eine Flasche Weißwein gekauft und standen,etwas benebelt und sehr hungrig, erst nach zehn Uhr abends wieder auf, zogen sich an, verließen das Hotel gegen elf, überquerten die Seine und fanden noch spät in der Nacht bei den belebten Markthallen unzählige kleine Lokale, in denen während der ganzen Woche bis in die Morgenstunden Essen serviert wurde. Das Leben hier war so anders und reicher als dort, woher sie kamen, daß es dazwischen keine Verbindung zu geben schien. Unter dem Tisch, an dem sie etwas aßen, was sie noch nie gegessen hatten, dessen Namen sie noch nicht einmal kannten, was ihnen schmeckte, wie ihnen noch nie etwas geschmeckt hatte, hielten sie sich minutenlang bei den Händen, und niemand achtete darauf. Später schlugen sie in Emils Taschenwörterbuch nach, was das gewesen war, sie hatten Kalbsbries gegessen.
    In dem engen, überfüllten und lauten Lokal tranken sie Rotwein. Sie hatten kaum Augen für das ausgelassene Publikum unterschiedlichster Herkunft, das hier zusammenkam, um zwischen zwei ankommenden Frischfleischtransporten etwas zu trinken oder der lähmenden nächtlichen Einsamkeit zu entfliehen. Marktarbeiter, Theatergänger, Einkäufer, Künstler, zwei

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