Zur Leidenschaft verfuehrt
„Herein.“
Ciro, Raphaels ernst dreinschauender persönlicher Assistent, den Charley bereits am Vorabend kennengelernt hatte, betrat den Raum. Er kam mit schnellen Schritten an den Schreibtisch und sprach leise auf Raphael ein. Charley verstand kein Wort, aber sie sah, wie Raphael die Stirn runzelte, bevor er den Kopf wandte und sie informierte: „Ich muss mit dem Leiter des Weinbergs reden. Es dauert nicht lange. Ciro wird Anna bitten, Ihnen unterdessen Kaffee zu bringen, dann sind Sie beschäftigt, bis ich zurück bin.“
Sein Ton war höflich, doch Charley ließ sich nicht täuschen. In Wahrheit war es ein Befehl, sich nicht von der Stelle zu rühren bis zu seiner Rückkehr.
Charley legte beide Hände um die Kaffeetasse, um die tröstliche Wärme des Kaffees zu spüren, den Anna ihr eben gebracht hatte. Wie ein Kind, das sich an sein Schmusetuch klammert, dachte sie und ärgerte sich wieder über ihre Verletzlichkeit.
Als Kind war sie immer der Sündenbock gewesen, wenn sie und ihre Schwestern etwas angestellt hatten, obwohl Lizzie stets darauf bestanden hatte, die ganze Schuld allein auf sich zu nehmen. Nicht selten hatte Charley sich nachts im Bett fast die Augen ausgeweint, weil sie sich unverstanden fühlte und überzeugt war, dass sie die Liebe ihrer Eltern weniger verdiente als ihre Schwestern. Die Art, wie Raphael sie behandelte, weckte Erinnerungen an früher erlittenes Unrecht und verstärkte ihre Verzweiflung noch.
Sie trank einen großen Schluck Kaffee, dann stellte sie die Tasse ab und stand auf, um einen Blick auf die Pläne zu werfen, die ausgebreitet auf Raphaels Schreibtisch lagen. Da es sich um Skizzen des Gartens handelte, gab es keinen ersichtlichen Grund, warum sie ihrer Neugier nicht nachgeben sollte. Außerdem waren die Pläne für die Restaurierung kein Geheimnis, die hatte sie bereits in England studiert.
Doch das hier waren keine modernen Pläne, sondern alte Zeichnungen des ursprünglich geplanten Gartens mit Bleistift und Aquarell, in verschiedenen Größen, Ausprägungen und Details. Jede einzelne Zeichnung war ein kleines Kunstwerk. Charleys Finger zitterten vor Ehrfurcht, während sie mit größter Behutsamkeit die Blätter berührte, auf denen Architekten vor so langer Zeit ihre Ideen und detaillierten Berechnungen von Brunnen, Statuen, Säulengängen und Grotten festgehalten hatten.
Ein Übersichtsplan zeigte den gesamten Garten, einschließlich des Säulengangs, der als Eingang diente und den Blick auf eine breite, von Bäumen gesäumte Einfahrt freigab. Jede Seite war durch verschlungene Wege unterteilt, mit überdachten, von Statuen geschmückten Nischen am Wegesrand, wo Steinbänke zum Ausruhen einluden. Am anderen Ende sah man einen großen steinernen Springbrunnen. Die Grenze des Gartens wurde von terrassenförmigen Stufen markiert, an deren unterem Ende ein künstlicher See mit einer Grotte lag.
Es gab Pläne für elegante kleine Pavillons, „geheime“ Sprinkleranlagen, die sich automatisch einschalteten, wenn jemand, ohne Böses zu ahnen, daran vorbeiging. Diesen Garten hätte Charley gern in seiner ursprünglichen Form gesehen. Auf jeden Fall musste sie Raphael recht geben, dass es ein Frevel war, diese formbewusste Schönheit durch billige Kopien zu ersetzen.
Sie war so versunken in diese seit Langem untergegangene Welt, dass sie gar nicht bemerkte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Erst als sie aufschaute, wurde ihr bewusst, dass Raphael zurückgekehrt war und jetzt neben ihr stand.
Wie lange war er schon hier? Seine Art, sie zu mustern, war ihr ausgesprochen unangenehm und machte sie extrem verletzlich. Verzweifelt bemüht, seinem Blick zu entfliehen, wich sie einen Schritt zurück und stieß dabei gegen das kleine Tischchen, auf dem das Hausmädchen das Tablett mit dem Kaffee abgestellt hatte. Der Beistelltisch schwankte so heftig, dass die Kaffeekanne umkippte.
Bevor Charley reagieren konnte, streckte Raphael den Arm aus und riss sie zurück, doch zu spät.
Sie musste unbewusst einen Schrei ausgestoßen haben, weil Raphael auf ihren Oberschenkel schaute, wo sich in Windeseile ein großer brauner Kaffeefleck ausbreitete. Dabei sagte er in fast anklagendem Ton: „Sie haben sich verbrüht.“
Aber Charley schüttelte den Kopf. „Nein, nein, kein Problem.“
Ihr Bein brannte zwar vor Schmerz, aber die Verlegenheit über ihre Ungeschicklichkeit wog weit schwerer. Auf der blendend weißen Serviette mit eingesticktem Monogramm, die
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