Zurück ans Meer
murmele ich, während ich meinen Kopf an seine Brust drücke.
»Gut zu hören«, sagte er und nimmt mir die Einkaufstüte aus der Hand. Ich lehne mich an die Arbeitsplatte und schaue ihm beim
Auspacken zu.
»Was glaubst du, wann unser Leben wieder normal sein wird?«, frage ich. »Du weißt schon, nicht außergewöhnlich, nicht inspirierend,
einfach nur normal.«
»Was ist normal?«, gibt er zurück. »Wir müssen uns mit dem abfinden, was uns zugeteilt wurde.«
Wie gewöhnlich ist seine Antwort kurz und direkt, und mir bleibt nur übrig, über seine Gedanken nachzusinnen.
»Was ist das?«, frage ich, als mir ein Buch ins Auge sticht, das sehr auffällig auf der Arbeitsplatte platziert ist:
Erhöhtes Krankheitsrisiko bei Betreuern
, ein bedrohlicher Titel, gelinde gesagt.
»Bringt unsere momentane Situation auf den Punkt, findest du nicht?«, fragt Robin und reicht mir ein Glas Wein. »Wir brauchen
heute Abend nicht darüber zu reden, aber es enthält ein paar erschreckende Statistiken, die dich aufrütteln könnten, was deine
Mutter betrifft. Hör zu, Joan, ich möchte nicht zu hart mit dir ins Gericht gehen – du hast dein Herz am rechten Fleck und
außerdem hast du dich viele Jahre um meine Eltern gekümmert. Mir kommt es nur so vor, als würde es kein Ende nehmen.«
»Ich weiß«, erwidere ich, während ich mir die Schürze umbinde und Gemüse zu schneiden beginne. Das Leben entfaltet sich gewiss
nicht auf vorhersehbare Weise – es verläuft in Windungen und Serpentinen. Und mein Leben kann nicht aufhören, nur weil meine
Mutter krank ist. Ich kann und werde ihre Fürsprecherin sein, muss aber mitfühlend mit mir selbst bleiben. Alles hat einen
Gegenpol – jedes Ziel einen Verlust, jede Ernennung eine Ablösung, jede Jahreszeit eine vergangene. Nichts hört einfach auf.
Aber heute Abend bin ich entschlossen, das Steuer an mich zu reißen und einen Weg meiner eigenen Wahl einzuschlagen. Ein fast
leeres Haus hat etwas Erregendes.
Vorsichtige Weiterfahrt
Anfang Dezember
Reisen bedeutet nicht nur, Neues zu sehen,
sondern auch etwas zurückzulassen.
Nicht nur Türen zu öffnen, sondern sie auch
zu schließen und nie zurückzukehren.
Doch kann man den Ort, den man für immer verlassen hat,
immer noch sehen, wenn man die Augen schließt.
Jan Myrdal
»O du fröhliche«, heißt es in einem bekannten Weihnachtslied, doch mir ist überhaupt nicht festlich zu Mute. Ich habe mir
größte Mühe gegeben, mir einzureden, dass es keine Rolle spielt, ob die Familie Weihnachten zusammen ist, aber es ist einfach
immer noch wichtig. Die Rekonvaleszenz meiner Mutter nach ihrer Operation hat uns davon abgehalten, über die Feiertage einen
unserer Söhne zu besuchen. Sie ist zwar wieder zu Hause und hat Hilfe, ist aber noch nicht vollständig genesen. Ich könnte
sie dieses Weihnachten nicht mit gutem Gewissen alleine lassen.
Neulich packte ich einen Karton mit Weihnachtsbüchern aus, die wir jedes Jahr herausholen, und blätterte in meinem Lieblingsbuch
Why the Chimes Rang (Warum die Glocken läuteten)
. Das ist zwar ein Bilderbuch für Kinder, verkündet jedoch die Botschaft, die ich hören wollte – eine Geschichte von zwei
Brüdern, die am Heiligabend auf dem Weg zur Kirche eine alte Frau finden, die in den Schnee gestürzt ist. Der ältere Bruder
fühlt sich genötigt, bei ihr zu bleiben und sie zu trösten, doch er schickt seinen Bruder mit einem Beutel Münzen, die sie
gespart haben, weiter zum Gottesdienst, in der Hoffnung, dass ihre Gabe für das Jesuskind die Glocken zum Läuten bringt –
was seit Jahren nicht mehr geschehen ist.
Doch als der Junge die Kirchenstufen erreicht, ist der Gottesdienst bereits beendet und die Glocken schweigen. Trotzdem tritt
der Junge an den Altar, kniet nieder und legt seine kleine Gabe neben die viel prachtvolleren aus Gold oder Juwelen und kostbare
Kunstwerke. Dabei verstummt die Orgel, und alle in der Kirche Versammelten lauschen verblüfft demunerwarteten Klang – zuerst ein sanftes Klingeln, dann ein kräftigeres, dröhnendes Läuten, als die riesigen Glocken die Kathedrale
mit ihrer herrlichen Melodie erfüllen. Noch einmal läuten die Glocken, und das nur wegen der bescheidenen, aber entschlossenen
Gabe der beiden kleinen Jungen.
Ich schloss das Buch und wusste, wohin ich an diesem Weihnachtsfest gehörte. Trotz aller Oberflächlichkeit, all des Rummels,
der Sentimentalität und fröhlichen Stimmung ist Weihnachten
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