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Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich diese Bemerkung auffassen sollte. Obwohl sie bittersüß und sogar schockierend war, sagten wir uns wenigstensmal wieder die Wahrheit, wie damals, als er aufwuchs. Da er mein Erstgeborener war und auf gewisse Weise mein Seelengefährte,
     sehnte ich mich während dieser sentimentalsten aller Jahreszeiten vermutlich nach weiteren solcher intimen Momente.
    »Heh, Schatz, du machst ja gar nicht mit«, sagt Robin und weckt mich aus meinen Träumereien.
    »Entschuldige«, erwidere ich, kann mich aber nicht erinnern, wo wir in unserem Gespräch stehen geblieben sind oder was ich
     mit der Lichterkette anfangen soll. Für gewöhnlich helfe ich ihm nicht dabei, weil ich zu sehr mit Backen, Einkaufen oder
     Planen der Mahlzeiten beschäftigt bin. Ich glaube, wenn ich ehrlich bin, vermisse ich in diesem Jahr die heftige Energie und
     Aktivität am meisten. Ich war immer die Macherin des Weihnachtsfestes, und diesen Job habe ich nun verloren. Allerdings haben
     mir die Kinder auch schon bei unseren beiden letzten Weihnachtsbesuchen nicht viel zu tun gegeben. Ich kam mir abgeschoben
     vor.
    »Ich sag dir, was ich dieses Jahr nicht vermissen werde«, unterbricht Robin meine Gedanken. »Auf einer gottverdammten Luftmatratze
     in irgendeinem Keller zu schlafen. Dafür bin ich allmählich zu alt.«
    Ich kichere, nicht nur in Erinnerung daran, wie oft ich meinen ein Meter dreiundneunzig großen Mann nach einer auf dem Boden
     verbrachten Nacht dabei beobachtet habe, auf Händen und Knien mühsam seinen schmerzenden Körper aufzurichten, sondern wie
     er mich in die Realität zurückholt. Wonach sehne ich mich wirklich?, frage ich mich.
    »Und mir wird bestimmt nicht fehlen, am Heiligen Abend für das Weihnachtsessen einzukaufen und dann auch noch alles zu bezahlen«,
     gebe ich zurück.
    Unsere Familienzusammenkünfte mit den Kindern sind nie billig oder frei von irgendwelchen Traumata, und ich verbiege mich
     jedes Mal wie eine Brezel, um niemandem auf dieFüße zu treten. Bei Luke fangen die Probleme meist in der Küche an. Seiner Meinung nach bin ich kaum in der Lage, auch nur
     einen Salat zuzubereiten, ganz zu schweigen davon, die Spülmaschine einzuräumen oder den Müll in den richtigen Eimer zu werfen.
     Von Zeit zu Zeit nehme ich eine gewisse Verärgerung über mich wahr – die Enttäuschung, dass ich nicht voraussehen kann, wie
     er die Dinge gern hätte   –, ob ich nun die Lebensmittel auspacke, mit seinen Kindern auf dem Boden spiele, sie auf ihren Autositzen anschnalle oder
     ihre Spielsachen vom Kinderzimmerboden aufräume.
    Ich weiß nicht genau, wie er mich haben will. Vielleicht denkt er, nachdem er jetzt seine Selbstständigkeit erreicht hat,
     könne er mich zu dem machen, was ich für ihn nie war, und ich werde zu der Mutter, nach der er sich immer gesehnt hat. Oder
     es ist eine andere Version dessen, was Andy mir enthüllte – dass ich im Moment die Einzige bin, die er abwehren, ablehnen
     oder über die er sich aufregen kann. Für ihn ist es gefahrlos, sich darüber zu beschweren, wie ich den Salat mache oder Wäsche
     falte, weil er dadurch das labile Gleichgewicht nicht gefährdet, das er und seine Frau als junge Eltern daheim haben; außerdem
     weiß er aus Erfahrung, dass ich mich nicht wehren werde. Ich nehme an, darin versteckt sich irgendwo eine Auszeichnung.
    Ein weiterer Vorteil, dieses Jahr auf die Besuche zu verzichten, besteht darin, dass ich mir keine Sorgen machen muss, mit
     den jungen Frauen aneinanderzugeraten. Den Tanz mit meinen Schwiegertöchtern zu lernen, war die schwierigste Anpassung, die
     ich seit der Heirat meiner Söhne leisten musste. Anscheinend ist es mir ohne jede Anstrengung gelungen, in jedes Fettnäpfchen
     zu treten. Ihnen Geschenke zu machen oder beim Umzug und mit den Kindern zu helfen, hat mir nicht geholfen, die erwarteten
     Pluspunkte zu erlangen. Der letzte Fauxpas passierte, als ich zu Luke fuhr, um ihnen nach der Geburt des zweiten Kindes zu
     helfen. Da sie gerade das Haus renovierten,machte ich mich sofort daran, einen sehr unordentlichen Keller aufzuräumen, wobei ich versehentlich ein paar nicht überreichte
     Weihnachtsgeschenke wegwarf. Wenngleich ich in bester Absicht gehandelt hatte, zog ich mir nichtsdestotrotz den Zorn meiner
     Schwiegertochter zu. Letztlich ging es nicht um die Geschenke – es ging darum, dass ich die Grenzen einer anderen Frau übertreten
     hatte: Es waren ihr Haus, ihre Sachen, sogar ihre Geheimnisse, die vielleicht im Keller

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