Zurück ans Meer
eine Zeit der Selbstlosigkeit. Meine Mutter hat in diesem Jahr
unsere Gesellschaft verdient – es wird andere Jahre mit Kindern und Enkelkindern geben. Diesmal muss ich daran glauben, dass
die Pakete angekommen sind und unsere Gaben die Glocken in den Herzen unserer Enkelkinder zum Läuten bringen werden.
Ich muss zugeben, dass ich insgeheim erleichtert bin, in dieser hektischen Jahreszeit nicht den langen Flug unternehmen zu
müssen, nur um mich dann als Gast zu fühlen, der in die Feierlichkeiten anderer hereingeplatzt ist. Zahllose Weihnachtsfeste
haben wir damit verbracht, uns den übervollen Zeitplänen der Kinder anzupassen, teure, sorgsam ausgewählte Geschenke quer
durchs Land zu schleppen, das Herstellen von Pfefferkuchenhäusern zu überwachen oder Popcorn aufzufädeln, nur um einen Einfluss
darauf zu haben, wie unsere Enkelkinder dieses Fest empfinden. In Wahrheit hatte ich dabei meist das Gefühl, meine Anstrengungen
zu übertreiben. Dann wieder fühlte ich mich, als spielte ich Twister und hätte Füße und Hände auf unterschiedlichen Kreisen
platziert. Außerdem herrscht bei unseren Familienzusammenkünften für gewöhnlich mehr Spannung als Freude; diesmal wird es
wenigstens friedvoll sein. Ich tue genau das, was mir die Ärztin vor einigen Monaten geraten hat – schalte freiwillig ab,
verzichte auf jeden Zeitplan, um ruhig zu werden.
Trotzdem fühle ich mich wie Scrooge aus dem Weihnachtsmärchen von Dickens, möchte alle um mich herum mit»Humbug« anblaffen. Mal möchte ich das Haus schmücken, dann wieder habe ich überhaupt keine Lust dazu. Wir haben uns das Anzünden
des Weihnachtsbaums im Ort angesehen, ich habe unsere selbst gebastelte Krippe ausgepackt, was mich beides die Kinder umso
mehr vermissen ließ. Eines will ich aber auf keinen Fall absagen – das Kranzflechten, bei dem Freundinnen zusammenkommen und
Wein trinken, während sie den Schmuck für ihre Haustüren basteln, eine Tradition, die ich nur für mich erschaffen habe.
Da die Sache heute stattfindet, hat Robin darauf bestanden, die Lichterkette an unserem Gartenzaun aufzuhängen. »Komm schon,
Schatz, wir müssen wenigstens irgendwas Festliches machen«, sagt er und drängt mich, von der Couch aufzustehen und die
New York Times
wegzulegen. Es sieht ihm gar nicht ähnlich, weihnachtliche Gefühle anzuregen. Vielleicht spürt er die Leere des Nests genauso
wie ich.
»Weißt du, es ist ganz natürlich, traurig zu sein«, sagt er beruhigend, während er den Arm um mich legt und wir zum Schuppen
gehen, um die Lichterkette zu suchen. »Zwanzig Jahre lang haben wir Rituale geschaffen, ohne je daran zu denken, dass es irgendwann
zu einem knirschenden Halt kommen würde. Wir wussten, dass wir die Kinder eines Tages mit anderen Familien teilen müssten,
aber ich zumindest hätte mir nie träumen lassen, dass es das Ende aller großen weihnachtlichen Familienzusammenkünfte bedeuten
würde. Zum Teufel, ich habe das Gefühl, als hätte sich die ganze Tradition einfach in Luft aufgelöst.«
Ich lächele und schmiege mich in seine Armbeuge. Er hat meinen Konflikt direkt auf den Punkt gebracht. Was war der Zweck all
dieser jahrelangen Anstrengungen? Was hat überdauert? Und haben meine Mutter und die Mutter von Robin jemals das Gleiche empfunden,
als wir unsere eigene Familientradition einführten?
Es war schon früh ersichtlich, dass unsere beiden Jungenentschlossen waren, ein eigenes Leben zu führen, während sie hierhin und dorthin liefen – Mädchen, Träumen, Abenteuern nachjagten –, je weiter fort desto besser, schien es. »Weißt du, daran bist nur du schuld«, necke ich ihn, während wir die Lichterkette
entwirren. »Du warst der Nomade, als du jung warst, und ich schätze, das hat auf unsere Söhne abgefärbt.«
Er lacht und wickelt einen Strang um den oberen Teil des Zauns.
»Ich musste daran denken, was Kahil Gilbran in
Der Prophet
geschrieben hat, dass ‹deine Kinder nicht deine Kinder sind. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach
sich selbst.› Glaubst du, die Jungs wissen, wie sehr wir sie vermissen?«, frage ich.
»Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, dass sie Zeit haben, darüber nachzudenken. Außerdem sind beide mit starken Frauen
verheiratet, die dir ähneln.« Seine Bemerkung versetzt mir einen Stich, auch wenn ich begreife, dass sie zutrifft.
»Dieses Geschwätz, man verliere keinen Sohn, sondern gewinne eine Tochter dazu, ist
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