Zurück ans Meer
zurückwandern; dort,
in dieser wilden und kargen Landschaft, findet man Metaphern im Überfluss. Trotz all der Bautätigkeit auf Cape Cod ist der
South Beach eine Konstante geblieben – seine Wildnis bestens geeignet für alle, die sich von ihrer Last befreien, überflüssiges
emotionales Gepäck abwerfen und sich von Erinnerungen an Misshandlung, Kummer, Furcht, Hilflosigkeit, Einsamkeit und Misstrauen
reinigen wollen. Jetzt gehört er zum größeren Bild – durch eine natürliche Brücke aus Sand, der stets in Bewegung bleibt,
mit einer Insel verbunden.
Ich lese weiter, fasziniert von der Geschichte dieser bisher abgelegenen Insel namens Monomoy. Ursprünglich gehörte sie zum
Festland, doch 1950 trennte ein Sturm sie von Chatham, und sie wurde zu einer Insel. Etwa zwanzig Jahre später riss ein weiterer
heftiger Wintersturm die Insel entzwei, und nun verbindet sich dreißig Jahre später der sich ausdehnende Strand von Chatham
mit Monomoy und macht sie dadurch wieder zu einem Teil des Festlandes. Mein Interesse wird umso mehr von diese Anomalie angestachelt,
als ich gerade die Nacht damit verbracht habe, über den Verlauf von Veränderung und Neugestaltung nachzudenken – den Austausch
des alten Lebens gegen ein neues. Ich lese weiter, wobei mich vor allem der Bericht von Robert Finch interessiert, eines örtlichen
Umweltschützers.
Aus meinem Leben hier habe ich zumindest gelernt, dass die Welt nicht auf umfassende Antworten vorbereitet ist, schon gar
nicht auf endgültige. Die Fundamente jedes Einzelnen verschieben sich ständig, das Meer sucht sich neue Bahnen, bildet neue
Meeresarme, verschließt alte, verläuft in neuen Strömungen. Alte Arten verschwinden, neue tauchen auf: nur der Verlauf von
Schöpfung und Veränderung bleibt gleich. Allen, die hier auf dem Cape leben, sollte das wohlbekannt sein. Wir müssen nur still
sitzen und zuschauen, wie sich die Welt um uns herum verändert.
Plötzlich habe ich das Bedürfnis, mit eigenen Augen die Kräfte der Natur zu sehen, die solche Veränderungen bewirken. Was
könnte besser sein, das vergangene Jahrzehnt zu bewerten, als eine Pilgerfahrt zu meinem ursprünglichen Ausgangspunkt – dorthin,
wo all meine wilden und salzigen Säfte erweckt wurden –, dem Ort, an dem ich mein Selbst wiederzuentdecken begann.
»Oh, Wildnis«, schreibt Robert Finch, »wofür wir sie auch immer halten, der Ozean hat das letzte Wort.« Trotzdem wird es eine
Herausforderung sein, um diese Jahreszeit ein Boot zu mieten. Meine einzige Chance ist Hillary, ein Muschelfischer, mit dessen
Frau ich befreundet bin. Er fährt fast täglich zu den Untiefen hinaus. Ich setze Kaffeewasser auf, warte auf die Morgendämmerung
und verspüre ein neu gefundenes Gefühl der Erwartung.
Unbekanntes Gelände
Januar
Sehen allein macht müde. Was wir wollen, ist Einsicht,
um das benennen zu können,
was wir als Ausdruck der Gnade betrachten.
Marv Hiles
Tage später biege ich mit dem Auto auf einen mit zerdrückten Muschelschalen bedeckten Weg, der zwischen zwei Reihen maroder
Schuppen hindurchführt, in denen die Fischer ihre Ausrüstungen lagern. Ich bin auf dem Weg zu einem stillen kleinen Hafen,
den nur diejenigen kennen, deren Lebensunterhalt vom Meer abhängig ist und in dem ich auf Hillarys Anweisung nicht später
als halb acht zu erscheinen habe. »Ich fahre drei oder vier Stunden vor Niedrigwasser hinaus, um volle fünf Stunden fürs Graben
zu haben«, erklärte er mir am Telefon. »Der Gezeitenzyklus bestimmt meine ganze Woche.«
Was für ein merkwürdiges Zusammentreffen
, dachte ich, als ich einhängte.
Seine Tage richten sich nach dem Gezeitenzyklus, und meine Gedanken kreisen um den Lebenszyklus.
Nachdem ich das Auto abgestellt habe, entdecke ich Hillary, der zu seinem Sieben-Meter-Boot hinausrudert. »Bin gleich zurück«,
ruft er mir zu, und seine Stimme hallt über die leere Bucht. Obwohl es mild ist für Januar, ist die Luft frisch, und nach
den auf und ab hüpfenden Booten zu urteilen, weht vor der Küste eine steife Brise.
Ich sehe zu, wie Hillary sein Boot vom Anlegeplatz losmacht und auf den Kai zukommt. »Spring an Bord – aber reich mir erst
mal meine ganzen Sachen rüber«, sagt er und deutet auf den Haufen seiner Utensilien. Als ich im Fischmarkt arbeitete, habe
ich oft gesehen, wie die Fischer ihre Ausrüstung zum Kai schleppten und auf ihre Boote luden. Auf mich als Anfängerin wirkte
die
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