Zurück ans Meer
doch in diesem Jahr trauere ich darum, dass das vergangene Jahr nur ein
total verschwommener Fleck ist.
Ich nehme den Tee mit ins Wohnzimmer, mache es mir auf dem Fenstersitz bequem und lege mir eine Decke um dieSchultern. In einer Ecke ist das Wort »Atme« eingestickt. Das war ein Geschenk meiner Freundin Vicki, die ebenfalls wollte,
dass ich es langsamer angehe. Als diese Decke nicht die gewünschte Wirkung erzielte, schenkte sie mir eine weitere mit dem
eingestickten Wort »Frieden«. Dieser zweiten Decke lag eine Plakette bei, die jetzt in meinem Büro hängt: »Frieden … bedeutet nicht, an einem Ort zu sein, wo es weder Lärm noch Ärger oder harte Arbeit gibt. Es bedeutet, inmitten dieser Dinge
zu stehen und im Herzen trotzdem ruhig zu sein.«
Bei dem Gedanken an Vicki muss ich lächeln. Sie nahm an einem meiner ersten Wochenendworkshops teil und erhielt ein paar Monate
später klar und vernehmlich die Botschaft, ruhiger zu werden, nicht so sehr von mir, sondern durch eine schwerwiegende Diagnose.
Sie hatte sich eine ernsthafte Lungenerkrankung zugezogen, und ihr Arzt teilte ihr mit, sie habe die Wahl zwischen Sprechen
und Atmen. Sechs Monate lang blieb sie vollkommen stumm, redete mit niemandem und schränkte ihren Kontakt zu Menschen auf
ein Minimum ein. Statt zu Papier und Stift zu greifen oder ein System von Gesten zu entwickeln, gab sich Vicki der Stille
hin und wandte sich nach innen. Sie nutzte die Zeit, um über den Wahnsinn des Lebens zu reflektieren, und fand schließlich
ein Mindestmaß an Gelassenheit.
Vor ihrer Erkrankung hatte sie sich selbst als arbeitssüchtig bezeichnet, ohne Gefühl für ihr Innenleben. Während des Wochenendkurses
ging ich auf den Lebenszyklus ein, das von Joan und Erik Erikson entwickelte Stufenmodell, und sie behauptete prompt, die
einzige Stärke, die sie besitze, sei Hoffnung – die erste Stärke, die man nach Meinung der Eriksons im Säuglingsalter erwirbt.
Die anderen Stärken entwickeln sich, während wir die Lebensleiter erklimmen – Wille, Zielbewusstheit/Entschlossenheit, Kompetenz,
Treue, Liebe, Fürsorge, Weisheit. Nicht nur die Verwirrung in Vickis Gesicht, sondern auch ihr Schmerz sind mir deutlich im
Gedächtnisgeblieben. Sie sah aus wie eine Frau, die sich aus ihrem eigenen Leben vollkommen ausgeschlossen fühlt. Obwohl sie einundfünfzig
war, behauptete sie, keine einzige der anderen sieben Stärken zu besitzen. Während des restlichen Wochenendes fand ich sie
immer wieder vor dem Lebenszyklus stehen, der in unserem Gruppenzimmer an der Wand hing.
Vicki musste wohl oder übel begreifen, dass laut dem Modell der Eriksons das Individuum, während es sich durch eine Widrigkeit
nach der anderen arbeitet, eine Stärke nach der anderen erlangt. Nachdem sie einen Anhaltspunkt hatte, was in ihrem Leben
fehlte, schwor sie sich, immer mal wieder Rückzugsmöglichkeiten zu finden und dann daran zu arbeiten, die verschiedenen Stärken
zu erwerben.
So beängstigend und ungewollt es auch war, zwang das medizinisch auferlegte Schweigen sie doch dazu, sich an ihren Schwur
zu halten – es nahm ihr jede Möglichkeit, in ihre alten Gewohnheiten, Lebensweisen und Bindungen zurückzufallen. Als sie wieder
sprechen konnte, bemühte sie sich weiterhin sehr darum, Abgeschiedenheit zu einer Priorität zu machen, und sie zog sich immer
wieder aus ihrem einst hektischen Leben zurück, um Raum für Reflexionen zu schaffen.
Während ich einen Schluck Tee trinke und an die Geschichte meiner Freundin denke, erkenne ich, dass sie stets Stärken im Überfluss
besaß, doch verlor sie aufgund der Verstrickungen, die zu ihrem chaotischen Leben gehörten, das Gespür dafür. Als Direktorin
eines eigenen Tanzensembles förderte sie dessen Wachstum, obwohl sie gleichzeitig eine Scheidung zu bewältigen hatte. Sie
war Tochter, Mutter und Großmutter. Nachdem Vicki zur Isolation gezwungen war, erkannte sie, dass sie durchaus bis zu einem
gewissen Grad über Willen, Entschlossenheit und Kompetenz verfügte. Als ihr Körper eine Auszeit verlangte, besaß sie die spirituellen
Ressourcen, sich nach innen zu wenden und darauf zu lauschen, was ihr Herz ihr zu sagen hatte. Am Ende bildete Vicki ihre
Kompanie um, wobei sie im Auge hatte, sie zu verkaufen. Sie mietete für ein Jahr ein Haus an einem Flussdelta in Alabama und
plante, ihren Traum zu verwirklichen, Schriftstellerin zu werden.
Vickis Odyssee enthält mehrere Lektionen
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