Zurück ans Meer
für mich. Obwohl das Stufenmodell der Eriksons darauf hindeutet, dass Individuen
zu bestimmten Zeiten ihres Lebens gewisse Stärken entwickeln, bin ich zu der Ansicht gelangt, dass eine Person, sobald sie
eine Stärke erworben hat, nicht einfach zur nächsten übergeht. Es ist ihr bestimmt, immer wieder auf jeder zuvor erworbenen
Stärke aufzubauen – eine Art Recycling der Lebenszyklen. Hoffnung, zum Beispiel, wird nichtnur erworben oder steht zur Verfügung, solange wir jung sind. Wenn bei der Fahrt auf dem Karussell ein Messingring nach dem
anderen auftaucht, sollten wir hoffnungsvoll genug sein, stets aufs Neue danach zu greifen und damit unsere Stärken zu festigen.
Vielleicht war es das, was Joan Erikson meinte, als sie darauf bestand, dass »das Leben ein Fortschreiten ist – es ist wichtig,
sich das bewusst zu machen und bereit zu sein, den nächsten Übergang willkommen zu heißen.«
Jedes Jahr um diese Zeit mache ich eine Bestandsaufnahme der letzten zwölf Monate, liste alle Ereignisse und Momente auf,
an die ich mich erinnern kann, und ordne sie als anregend, erschöpfend oder unter gemeinsame Erfahrungen mit meinem Mann ein.
Aber heute Abend kann ich etwas noch Besseres tun. Es ist zehn Jahre her, seit ich nach Cape Cod kam – ein Jahrzehnt, in dem
sich so viel verändert hat. Was hat sich ereignet? Wer war ich damals? Was habe ich tatsächlich erreicht? Was ist unerledigt
geblieben? Wenn, wie Shakespeare schrieb, »Vergangenes nur ein Vorspiel ist«, wird mir die Beantwortung dieser Fragen vielleicht
einen kurzen Einblick in den weiteren Handlungsablauf geben. Wie Vicki muss ich zurückschauen und entdecken, welche Stärken
ich erworben, aber auch in all dem Herumeilen und Machen und Betreuen aus den Augen verloren habe. Joan Erikson war es, die
bemerkte, es gehe in einem vollen (erfüllten) Leben um »Selbstkultivierung«. »Wir schulden es uns, aus Nichts etwas zu erschaffen.«
Ihr zufolge war es einfach Zeitverschwendung, sich gedanklich damit aufzuhalten, was die eigene Mutter für einen getan hatte
– man solle sich lieber fragen, was man für sich selbst tun wird.
Ich greife nach Block und Stift und beginne zu schreiben, denke daran zurück, wer ich vor zehn Jahren war, lausche meinem
Leben nach, rufe mir die Schlüsselmomente ins Gedächtnis und erkenne dabei, dass nichts von dem Geschehenen alltäglich war.
Damals war ich eine Frau mittleren Alters,die neben ihrem Mann in einem leeren Haus herlebte, ihn auf neue Weise kennenlernte, während wir Tag und Nacht zusammen waren,
wobei ich versuchte, die Bedeutung von Familie neu zu besetzen; gleichzeitig schrieb ich meine Geschichte und hoffte, sie
veröffentlichen zu können. Bis auf die Momente, in denen man in den Spiegel schaut, um neue Krähenfüße und weiße Haare zu
entdecken, fällt es schwer, den genauen Moment der Metamorphose zu bestimmen. Menschen verändern sich fast unmerklich im Vergleich
beispielsweise zu Schmetterlingen, die in voller Schönheit aus ihrer Verpuppung herausplatzen.
Während ich mich an meine Ankunft auf dem Cape erinnere – eine überstürzte Entscheidung und ein radikaler Umbruch –, erkenne ich, dass dieses letzte Jahrzehnt mit einer Krise begann, einer Zeit, in der ich so verstimmt war, dass ich davonlief,
um allein zu leben. Die Stärke, die ich durch die Nähe zur Natur und das Alleinsein zurückgewann, war
Hoffnung
, eine Stärke, die ich verloren hatte, als mich das Ausmaß überwältigte, Kinder großzuziehen und einen Haushalt zu führen.
Zu Beginn des Jahrzehnts empfand ich Scham – Scham, dass ich es mit meinem Mann nicht hinbekam, Scham, dass ich weglaufen und mich verstecken musste, Scham, dass es
mir nicht gelang, zumindest so perfekt zu erscheinen wie die Vorortnachbarn, die ich hinter mir gelassen hatte. Aber als ich
lernte, allein zu überleben und meine eigene Gesellschaft sogar zu genießen, spürte ich zum ersten Mal die Freude der Selbstständigkeit
und wurde dafür mit einem Wiederaufleben von
Willen
belohnt.
Unabhängig zu sein, meinen Weg zu gehen, ohne um Hilfe zu rufen, veränderte das, was ich für den Rest meines Lebens sein würde.
Da mir beigebracht worden war, nachgiebig und abhängig zu sein, musste ich nun die Regeln lernen, die zum Getrenntsein gehören.
Die erste Regel war die Notwendigkeitfinanzieller Unabhängigkeit – zu wissen, dass ich für mich selbst aufkommen konnte, mit oder ohne einen Ehemann. Ich
Weitere Kostenlose Bücher