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Zurück ans Meer

Titel: Zurück ans Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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wate zum nur zwanzig Schritt entfernten Ufer. Bevor ich ankomme, bin ich
     durchgefroren, und meine Zehen sind zu Eiszapfen erstarrt. Mein einziges Ziel ist, meinen Körper auf den Sand zu hieven, trockene
     Socken und meine Turnschuhe anzuziehen. Was habe ich mir nur dabei gedacht, mitten im Winter hierherzukommen? Hillary hat
     bereits in den Rückwärtsgang geschaltet und ist dabei zu wenden.
    Sobald ich am Ufer bin, blicke ich mich törichterweise nach Schutz um, den es hier natürlich nicht gibt. Einstweilen bin ich
     den Elementen vollkommen ausgeliefert. Hastig schnüre ich die Turnschuhe zu und stehe auf, um meine Wanderungzu planen. Der ausgedehnte Strand vor mir ist bestenfalls verwirrend – ein riesiges Ödland, das aussieht, als wäre es vor
     Kurzem zerbombt worden. Der Sand ist mit zerbrochenen Muschelschalen, Fischgräten, Hunderten Pfeilschwanzkrebsen, dem Kadaver
     eines Seehundes und mehreren toten Möwen bedeckt. Mit dem scharfen Wind, der mir Sand in die Augen und jede andere unbedeckte
     Öffnung weht, fällt es mir schwer, mich zurechtzufinden.
    Ich suche den Horizont ab, halte Ausschau nach den Dünen, die noch vor zwölf Monaten die Landschaft prägten. In der Ferne
     scheint irgendein Klumpen zu sein, und ich gehe los. Zum Glück erlaubt der gefrorene Sand ein flottes Tempo. Ich eile weiter,
     umgehe vorsichtig Büschel silbrig schimmernden Strandgrases, das einheitlich in eine Richtung weht wie Wäsche, die an einer
     Leine zum Trocknen aufgehängt ist. Als ich näherkomme, kann ich die Umrisse einer grob zusammengezimmerten Skulptur ausmachen
     – gewaltige Stücke Treibholz, alte Planken von Schiffswracks und große Äste, die aneinandergelehnt sind – vermutlich erschaffen
     von einem Touristen und zurückgelassen, um ein Eigenleben zu entwickeln.
    Das Gebilde ist wie ein Wigwam gestaltet, mit zahlreichen Armen, die in alle Richtungen weisen und mit Fetzen behängt sind.
     Unter anderen Umständen würde ich vielleicht über die Bedeutung dieses Bauwerks nachgrübeln, aber im Moment bin ich nur verdammt
     nass und durchgefroren. Zum Glück hat der Architekt dieses zerklüfteten Bauwerks sogar an einen Eingang gedacht, der unter
     diesen frostigen Umständen einladend aussieht, und daher schlüpfe ich rasch hinein. Wenn es auch nicht völlig winddicht ist,
     so ist es immer noch besser, als im Freien zu sitzen.
    Ich packe ein zerrissenes und schmieriges Handtuch, das an einem der Ausleger flattert, stopfe es in eine der größeren Öffnungen,
     durch die es von Osten hereinweht, ziehe meine Mütze wieder über die Stirn, wickle mir meinen Wollschalzweimal um den Hals, nehme meine Thermosflasche heraus, schenke mir einen Becher warmen Kaffee ein und lasse mir von dem Duft
     und aufsteigenden Dampf einen frühmorgendlichen Gruß entbieten. Ah, die pure Wonne leiblicher Genüsse!
    Es ist erst neun Uhr, und vor mir liegen noch acht Stunden des Wanderns und Sinnierens, bevor dieses Abenteuer endet. Da kann
     ich mir genauso gut die Zeit nehmen, mein Frühstück zu genießen. Ich lehne mich an eine verbogene Hummerreuse und blicke versonnen
     auf all das, was an den Ästen meiner Festung hängt – ein zerrissener Drachen, mehrere leere Flaschen und Dosen, eine angeschlagene
     Boje, trockener Tang und ein gelbes Livestrong-Plastikarmband. Mir geht auf, dass der größte Teil dieses Abfalls einfach unbrauchbar
     geworden ist, zurückgelassen von den ehemaligen Besitzern, denen er nichts mehr nützte. Was soll man mit einem Handschuh,
     zu dem der zweite fehlt, einem Eimer ohne Griff, einem Spinnerkasten ohne Deckel?
    Ich weiß noch, wie ich in New York ausgezogen bin und dabei eine gewisse Melancholie empfand – schließlich war es das Haus,
     in dem wir unsere Kinder großgezogen und unser Erwachsenenleben gestaltet hatten. Kurz vor der Abfahrt kam ein Freund vorbei,
     um sich zu verabschieden, und machte zufällig eine Bemerkung, die genau auf meinen Konflikt zutraf. »Tja, ich nehme an, dieses
     Haus hat seine Nützlichkeit überlebt, nicht wahr?«, sagte er. Und er hatte recht. Die Jungs waren schon vor Jahren ausgezogen
     und hatten leere, nunmehr überflüssige Schlafzimmer zurückgelassen; das große Esszimmer vermittelte nie mehr ein wohliges
     und warmes Gefühl, wenn Robin und ich allein darin aßen, der Hof, auf dem das alte Baumhaus zerfiel, und der Garten, vernachlässigt,
     nachdem ich zu arbeiten begonnen hatte, waren mehr, als wir bewältigen konnten. Ich verband viele gute

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