Zurück ans Meer
im Iona Book Shop, einem winzigen Haus mit Stuckornamenten, das selten geöffnet hat, Licht
brennt und eine Rauchfahne aus dem Schornstein steigt. Ich spähe durch das Fenster und entdecke einen Künstler bei der Arbeit.
Das muss der bekannte Holzschnitzer sein, der auf keltische Kreuze spezialisiert ist. Ich klopfe ans Fenster, und er schaut
von seiner Werkbank auf und winkt mich herein.
»Ich störe Sie doch hoffentlich nicht?«, frage ich und deute mit einem Nicken auf seine Arbeit. »Ich bin schon so oft vorbeigekommen
und wollte mir Ihre Kreuze ansehen.« Das ziemlich große, an dem er schnitzt, ist eine Auftragsarbeit für eine Kirche irgendwo
in England.
»Schauen Sie sich ruhig um«, meint er, und ich schlurfe durch Holzabfälle und gewellte Späne, steige über Sägemehlhaufen hinweg.
An den Wänden, auf den Regalen und Simsen sind Kreuze in jeder Form und Größe ausgestellt – mancheganz schlicht, andere mit komplizierten Mustern, alle mit dem äußeren Ring, dem Kreis, der die Elemente zu stabilisieren und
den vier Armen Stärke zu verleihen scheint.
»Warum haben keltische Kreuze immer diesen äußeren Ring?«, frage ich.
»Das ist der Ort, an dem die Gegensätze aufeinandertreffen«, erwidert er, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen. »Eine andere
Auslegung besagt, er verkörpere die Mutter – die Frau –, die alles zusammenhält.« Dabei lächelt er, und ich überlege, ob er das leicht sarkastisch meint oder an die Legenden über
die Göttin glaubt. Da er so sanftmütig ist und kaum Modulation in der Stimme hat, lässt sich schwer sagen, ob dieser Mann
Humor hat oder nicht.
»Um diese frühe Stunde bekommt man selten einen Wanderer zu sehen«, sagt er. »Sieht so aus, als wären Sie in den Matsch gefallen.«
»Das bleibt in dieser Gegend kaum aus.« Ich lache. »Und auf dem Weg hinauf auf den Dun-I blieb mir nicht viel anderes übrig.
Was da als Pfad bezeichnet wird, ist eine regelrechte Schlammrutsche.«
»Das stimmt. Haben Sie den Ausblick genossen?«
»Und wie«, antworte ich. »Ich habe die gesamte Insel und dann auch noch den Sonnenaufgang gesehen.«
»Da, wo Sie waren – der Dun-I«, fährt er fort, »ist tatsächlich der Kreuzungspunkt der Insel – wie bei meinen Kreuzen. Es
mag Ihnen nicht aufgefallen sein, dass die Insel aufgrund ihrer Länge und Breite dieselben Proportionen hat wie ein Kreuz
– sie ist dreieinhalb Meilen lang und anderthalb Meilen breit – und Dun-I ist der Kreuzungspunkt.«
Über die Form der Insel hatte ich mir bisher noch keine Gedanken gemacht, und seine Bemerkung erstaunt mich. Außerdem bin
ich von dem Muster verzaubert, das er in viele seiner Kreuze geschnitzt hat – ineinander verschlungene Stränge, die oft wie
zwei ungebrochene Kreise nebeneinander wirken. Dasist das Symbol für Unendlichkeit und, für mich, Wechselseitigkeit. Sein kleines Studio liegt ebenfalls in der Mitte der Insel,
am Rande des Städtchens, dem Versammlungsort für alle, wo echte Gemeinschaft gedeiht. Wechselseitigkeit, vor allem auf einer
kleinen Insel, ist von großer Bedeutung. Alleine können wir nicht überleben.
»Es war sehr klug von Ihnen, Ihren Aufenthalt mit dem Ausblick vom Dun-I zu beginnen«, sagt er. »Aber hier gibt es in jeder
Ecke etwas.«
»Ich habe gehört, dass man im Norden Heilung findet, im Westen Geduld, im Süden Klarheit, und ich weiß nicht mehr genau, was
es im Osten war.«
»Gnade«, erwidert er. »Sie werden überall etwas finden.«
Kreuze haben mir schon immer gefallen, nicht wegen der religiösen Bedeutung, sondern weil sie das Symbol für den Scheideweg
sind – vier Arme, die für vier Wahlmöglichkeiten stehen. Jetzt erkenne ich, dass jeder Arm auch ein Richtungsweiser ist, und
wenn ich diese Gedanken noch weiter ausführe, könnte ich, bezogen auf meinen Fall, die vier Arme als meine Mutter, die beiden
Söhne und meinen Mann betrachten, mit mir als derjenigen, die »alles zusammenhält«. Ein schlichtes Holzkreuz, dafür vorgesehen,
an einer Wand zu hängen, zieht mich an, da es unkompliziert ist, genau wie ich es werden möchte. Aber da ist auch noch ein
verziertes frei stehendes Kreuz mit zahllosen keltischen Schnitzereien. Vielleicht werde ich beide kaufen.
»Sind Sie morgen wieder hier?«, frage ich.
»Wie in den letzten fünfundzwanzig Jahren«, antwortet er. »Da die Touristensaison bevorsteht, werde ich ganztags geöffnet
haben, es sei denn, ich bin mit dem Hund unterwegs.« Er
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