Zurück ans Meer
hatte. »Man kann Gott (den Geist) nicht fern von der Menschheit finden«, sagte Gandhi,
und ich merke, dass sich das hier bewahrheitet. Ich mache mich für ein großes schottisches Frühstück und eine angenehme Lesestunde
auf den Weg zum Argyll.
Scheideweg
April
Der Sinneswandel ist nicht so sehr ein gedanklicher Sprung
als ein tatsächlicher. Man muss wagen … beherzt zu handeln, ohne absolute Sicherheit zu haben.
William Sloane Coffin
Es ist vier Uhr morgens, und der Wecker hat gerade geklingelt. Ich habe mir eine Uhr aus dem Argyll geliehen, um den Sonnenaufgang
nicht zu verpassen, aber der Wind heult so stark vor meinem kleinen Fenster, dass ich Zweifel habe, ob ich überhaupt etwas
erkennen werde. Bei näherem Hinschauen entdecke ich, dass es mit Eisblumen bedeckt ist. Bin ich denn vollkommen verrückt?
Nur weil eine Frau, und dazu noch eine Amerikanerin, mir einen Vorschlag macht, brauche ich doch nicht darauf einzugehen.
Doch egal, jetzt kann ich sowieso nicht mehr schlafen.
Ich greife nach meiner Seidenunterwäsche, ziehe einen Rollkragenpullover und eine Jogginghose darüber und nehme zur Sicherheit
noch meinen wasserfesten Parka hinzu. Für eine Tasse Kaffee bleibt keine Zeit mehr. Die Sonne soll um Viertel nach fünf aufgehen,
und ich habe nicht die geringste Ahnung, wie lange die Wanderung dauern wird. Ich weiß nur, dass der Weg direkt bergauf führt.
Ausgerüstet mit schlammigen Wanderstiefeln, einer Taschenlampe und einem Wanderstab, gehe ich los, komme mir vollkommen töricht
vor, als ich hinunter zu dem inzwischen vertrauen Kai und auf die schmale Straße zusteuere, die aus dem Ort hinausführt.
Nichtsdestotrotz hat dieses Wandern durch die Dunkelheit unter einem Sternenhimmel, der im Morgenlicht allmählich verblasst,
etwas Magisches. Ich bewege mich langsam, kann vor mir kaum etwas erkennen, wedle den Nebel fort, bis ich an ein handgeschnitztes
Schild komme, dessen Pfeil zum Dun-I weist. Ich schiebe das Gatter auf und finde mich Minuten später auf einer sumpfigen Weide
zwischen langhaarigenKühen wieder, die mich anstarren, und auseinanderstiebenden Schafen, die ihre Lämmer vor sich her treiben. Obwohl ich recht
trittsicher bin, macht der Frühjahrsboden, zusammen mit dem schwachen, frühmorgendlichen Licht, dieses Unterfangen zu einer
größeren Herausforderung, als ich angenommen hatte. In einer zerklüfteten, von Moos und Gras überwucherten Steinmauer direkt
vor mir entdecke ich eine schmale Öffnung und nehme an, dass der Pfad irgendwohin führen wird. Trotz der Schafskötel und des
fragwürdigen Geländes bin ich leicht beschwingt, etwas so absolut Neues auszuprobieren.
Es geht in der Tat nur bergauf, wie im Buch angekündigt, und bald atme ich schwer. Aber der körperlichen Anstrengung steht
das Weichwerden entgegen, das ich innerlich verspüre, als würde ich auftauen und aus dieser Welt in eine andere aufsteigen.
Der Himmel wird heller, und ich kann besser erahnen, wie weit ich noch bergauf gehen muss. Zweimal rutsche ich aus und bin
mit Schlamm bedeckt, aber der Gipfel ist unverkennbar, nachdem ich einen großen Cairn erkenne, den Kletterer über die Jahre
aufgeschichtet haben. Nach weiteren zwanzig Minuten erreiche ich diesen etwa sechs Meter hohen Steinaltar, der zweifellos
in Ehrerbietung von all jenen errichtet wurde, die vor mir diese Wanderung unternommen haben. Ich lehne mich an diesen Schutzwall,
richte meinen Blick auf das Schimmern, das der Sonne vorausgeht, und verspüre eine Stille, wie ich sie nie zuvor erlebt habe.
Obwohl ich die Abtei gestern als Zufluchtsstätte empfunden habe, erkenne ich hier mit dem weiten Blick auf diese kleine erwachende
Insel, dass eine Zufluchtsstätte nie nur ein Gebäude ist, und sei es noch so ehrwürdig, alt oder heilig. Genauer gesagt ist
es ein Geisteszustand – ein Zustand des Seins.
»Es gibt solche Augenblicke, wenn die Seele Flügel bekommt«, schrieb Fiona MacLeod, eine der Ersten, die den Geist Ionas beschrieb
und vor hundert Jahren genau an dieserStelle saß. »Sie erinnert sich an das, woran sie sich erinnern muss, liebt das Geliebte noch mehr, und fliegt da hin, wonach
sie sich sehnt.«
Ich blicke auf die Welt unter mir – auf die erste Fähre, die gleich zur Überfahrt ablegen wird, die weißen Punkte der Schafe,
hier und da der schwarze und braune Fleck einer Kuh, ein Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit, die teilweise erleuchtete Abtei,
wo das
Weitere Kostenlose Bücher