Zurück ans Meer
deutet auf den Englischen Schäferhund, der neben dem bauchigen Holzofen
schläft.
»Es war mir eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sage ich zum Abschied, in Gedanken schon damit beschäftigt, über diegesamte Insel zu wandern, entlang der Kreuzarme. Ich habe nicht das Gefühl, dass dieser Kreuzschnitzer religiös ist, doch
von ihm geht etwas Sanftmütiges aus, das von seiner unentwegten Arbeit herrühren muss: Raspeln, Schnitzen, Schleifen, Formen
und schließlich das Gestalten vieler unterschiedlicher Kreuze – wie ein immer wieder gebeteter Rosenkranz. Ich frage mich,
wie jemand Holzschnitzer oder irgendeine Art von Künstler wird. Hier auf Iona, wurde mir gesagt, gebe es auch einen Maler,
einen Töpfer und einen Schmuckgestalter. Sie lassen sich offensichtlich nicht nur von der physischen Schönheit dieser Insel
inspirieren, sondern von ihrer uralten Kultur. Sie tun es, nehme ich an, um selbst zu inspirieren – das lateinische
inspirare
bedeutet »Leben in etwas hauchen«. Als solche sind sie stumme Priester und lassen ihre Arbeit sprechen, statt Worte zu gebrauchen.
Auf dieser Insel hält jeder Tag anscheinend eine kleine Offenbarung bereit. Man weiß nie, wann der nächste Engel, Lehrer oder
Mentor auftauchen wird. Die Herrlichkeit der Erfahrung findet sich im Element der Überraschung.
Ernte
Ende April
Wer sich dem Leben hingibt, löst das Unlösbare.
Lao-tse
Der Gedanke, gezielt über die ganze Insel und in jede Richtung zu wandern, kam mir erst, als mein Holzschnitzer-Freund die
Gaben bestätigte, die in jedem Bereich des »Kreuzes« zu finden sind. Doch war nach unserer Begegnung das Wetter so schlecht,
dass ich es in den letzten Tagen nur zum nördlichen Teil der Insel geschafft habe. Zufällig war es genau der Ort, wohin ich
musste – der Ort des Heilens. Obwohl ich auf dem Dun-I einen enormen Durchbruch in Bezug auf die vielen Facetten des Frauseins
hatte, dachte ich hauptsächlich über die Wunder meines sich verändernden Körpers nach, sah nur seine positiven Attribute –
die treuen Dienste, die er mir über die Jahre geleistet hatte. Was ich nicht berücksichtigte, war die Vernachlässigung, die
er meinetwegen hatte erdulden müssen, und die Tatsache, dass er mir erneut die Rechnung präsentierte.
Momentan ist es mein Kreuz, das mir Schwierigkeiten macht – genauer gesagt mein Kreuzbein. Ich finde es interessant, dass
dieser Teil der Wirbelsäule, der das Becken zusammenhält – der Ort, in dem neues Leben heranwächst –, mir Schmerzen bereitet. Ich habe es mehr oder weniger stillgelegt, nutze es nur wenig, seit ich aus dem gebärfähigen Alter
heraus bin, gönne ihm, abgesehen von meinen täglichen Spaziergängen, wenig Bewegung und nehme es ansonsten als gegeben hin.
Das und meine Schulterblätter, die sich ständig verkrampfen, weil ich »das Kreuz trage«, wie Louise Hay sagt, womit sie Frauen
meint, die sich bereitwillig die Lasten aller anderen aufbürden. Jedenfalls ist mein Kreuzbein in Schwierigkeiten – buchstäblich
und im übertragenen Sinne.Deshalb bin ich während des gestrigen unerwarteten, kurzen Schneesturms nach Norden gestapft. Trotzdem hätte ich mehrmals
fast kehrtgemacht. Bockende, scharfe Winde schienen mir nicht das beste Rezept für eine Heilung. Aber ich trottete weiter.
Außerdem gehört es zu einer der seltsamen Regeln des kontemplativen Lebens, dass man sich dabei nicht hinsetzt und Probleme
löst. Stattdessen trägt man sie geduldig mit sich herum, bis sie sich irgendwie von selber lösen. In den letzten paar Tagen
spürte ich infolge mehrerer zufälliger Erlebnisse, dass jemand oder etwas mich finden möchte und dieses Etwas meine Seele
ist.
Zuerst zögerte ich, das Wort
Seele
auch nur laut auszusprechen – es klang so übertrieben. Doch hier auf Iona werfen die Leute mit dem Wort um sich, ohne überhaupt
nachzudenken, vielleicht weil hier die Seele nicht der spezielle Ursprung der religiösen Institutionen ist. Ja,
Seele
wird ausschließlich als aktive Vorstellungskraft verstanden.
Iona hat viele Geheimnisse, und das ist gut. Die Wanderpfade sind alles andere als deutlich zu erkennen, und schließlich landet
man immer am Wasser. Ich muss an Andrew Wyeth denken, der sich in Chadds Ford, Pennsylvania, niederließ, weil er spürte, dass
alles, was er durch die Malerei erforschen wollte, dort im Umkreis von vier Meilen zu finden war. Ich spüre bereits, dass
das für mich hier ebenfalls
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