Zurück ans Meer
anglikanische
Choräle an, die ich kaum kenne, und während ich ihm beim Spielen zusehe, wird deutlich, dass er völlig in seine Musik versunken
ist. Ich stehe auf und trete neben die Orgel, warte, bis er mit einem Stück von Vivaldi fertig ist, damit ich ihm danken kann.
»Beten Sie, aber erwarten Sie nichts«, warnt mich der alte Mann. »Ein paar Augenblicke vor einem Gemälde, ein Sonnenaufgang,
oder auch nur das Anhören eines Streichquartetts wird Ihnen mehr geben, als Sie brauchen.«
Ich gehe hinaus in die Kälte; der Tag ist etwas freundlicher geworden. Da noch viele Stunden vor mir liegen, bevor ich schlafen
gehe, und ich mich sehr angeregt fühle, beschließe ich, bei der Gemeindebuchhandlung haltzumachen. Sie hatte mich bereits
angezogen, da ich hoffte, dort eventuell Anleitungen für eine Novizin zu finden, wie man eine Pilgerfahrtdurchführt. Aber da ich herkam, um mich aus meinem Kopf zu entfernen und mehr in meinen Körper zu vertiefen, habe ich bisher
der Verlockung widerstanden, Bücher zu kaufen, die nur zu weiterem Denken führen.
Bei meinem Eintritt werde ich von einer amerikanischen Freiwilligen begrüßt, die jedes Jahr zum Arbeiten nach Iona kommt.
»Also haben wir eine weitere Amerikanerin unter uns«, sagt sie fröhlich. »Wir haben schon über Sie gesprochen. Anscheinend
haben Sie ein Buch darüber geschrieben, wie Frauen sich selbst finden können. Und wonach suchen Sie nun hier?«
Wieder trifft es mich unvorbereitet. Wie sind solche Informationen zu dieser Fremden gelangt? Mir wird jetzt klar, dass sich
auf einer Insel, die nicht mehr als hundert Einwohner hat, jede Neuigkeit schnell herumspricht. Alleinstehende Frauen, die
in der regnerischen Jahreszeit eintreffen, fallen auf. Gewiss sind sie in der einen oder anderen Mission unterwegs.
»Sie wissen, wie das bei uns zu Hause ist«, sage ich zu dieser Fremden, die mir bereits wie eine Freundin vorkommt. »Tatsächlich
mache ich eine Art Urlaub, und Iona stand schon immer auf meiner Wunschliste. Ich bin hergekommen, um all der Hektik, dem
Krach und dem Hin und Her des Lebens zu Hause zu entfliehen. Mir wurde gesagt, ich würde hier mehr Ruhe und Nachdenklichkeit
finden. Und wie sind Sie auf Iona gekommen?«, frage ich und genieße die Chance einer lebhaften Unterhaltung mit einer anderen
Frau.
»Vor Jahren habe ich mit meinem Mann einen Tagesausflug hierher gemacht. Auf der Fähre von Mull lernte ich einen Mann kennen,
der hier arbeitete. Er erzählte mir, es gebe jede Menge Jobs, wenn man nichts gegen das Gemeinschaftsleben hätte. Ich fand
das ganz interessant, bis ich die Fähre verließ. Und da traf es mich wie ein Schlag. Hier wollte ich sein! Leider teilte mein
Mann meine Begeisterung nicht. Doch ichkonnte mir nicht vorstellen, wieder fortzugehen. Er fuhr weiter, und ich blieb den Sommer über.«
»Und die Ehe?«
»Oh, die ist längst vorbei. Iona half bei der Trennung«, sagt sie und lacht leise vor Vergnügen darüber, wie sich ihr Leben
entwickelt hat. »Sie suchen ebenfalls nach etwas, das spüre ich«, hakt sie nach.
»Ja, aber ich kann es nicht richtig erklären.«
»Das macht nichts«, sagt sie. »Ich verstehe das. Aber wenn ich Ihnen etwas vorschlagen darf …«
»Gerne«, erwidere ich.
»Sie müssen unbedingt nach Dun-I. Das ist der höchste Punkt der Insel – was natürlich nicht viel bedeutet. Aber es ist ein heiliger Ort, von den Druiden dazu
bestimmt. Bei Sonnenaufgang dort zu sein und aus dem sogenannten Teich des Heilens zu trinken, wird Ihren Blick auf alles
verändern.«
Sie bemerkt meinen zweifelnden Ausdruck, geht an ein Bücherregal, nimmt ein 1910 erschienenes Buch heraus, blättert zu Seite
164 und liest mir in einer etwas altertümlich klingenden Sprache eine Beschreibung dessen vor, wovon sie gesprochen hat: »Zu
diesem kleinen, schwarz-braunen Bergsee sind seit Hunderten von Jahren Pilger aller Generationen gekommen, um das heilende
Wasser in dem Augenblick zu berühren, in dem die ersten Sonnenstrahlen es beseelen – aber auch in Abgeschiedenheit, denn alle,
die den Jungbrunnen suchen, sind Träumer und Kinder des Traumes und nur wenige an der Zahl. Doch eine Insel des Traumes ist
Iona in der Tat.«
»Gekauft«, womit ich sowohl das Buch als auch ihren Vorschlag meine.
»Aber Sie müssen vor Sonnenaufgang hinaufsteigen«, rät sie mir eindringlich.
Endlich habe ich das Gefühl, die Anweisung erhalten zuhaben, die ich mir von Iona erhofft
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