Zurück ans Meer
Frühstück vorbereitet wird – ein kleines, erwachendes Dorf wie vor hundert Jahren. Warum fällt es mir so schwer, mich
an das Bedürfnis zu erinnern, gelegentlich einfach dazusitzen und zuzuschauen, wie sich die Zeit entfaltet?
Der Himmel ist jetzt blau, bis auf das Rotbraun, das hinter den Bergen von Mull hervorlugt. Mir bleibt noch etwas Zeit, den
Teich mit dem heiligen Wasser zu finden, und ich wandere auf dem Hügel herum, blicke hier in eine Spalte und dort über einen
Felsbrocken. Gerade als die Sonne über den Horizont späht, entdecke ich eine unscheinbare, halb unter Heidekraut verborgene
Pfütze und knie mich rasch daneben, wölbe die Hände, um mir möglichst viel Wasser ins Gesicht zu spritzen. Mit nassem, tropfendem
Gesicht schaue ich hinunter und erwarte, das Spiegelbild einer abgehärmten, müden Frau zu erblicken. Stattdessen halte ich
ganz still, um sicherzugehen, dass der gelassene Ausdruck und das ungezwungene Lächeln, das ich dort sehe, wirklich zu mir
gehören. In mir löst sich etwas, und ich beginne zu weinen – glückliche Tränen zunächst, dann die tiefer sitzenden, die ich
seit Jahren zurückgehalten habe, da nie die passende Zeit war, emotional zu werden.
Nach einer Weile komme ich mir albern vor – wieso führe ich hier auf einem Berggipfel im Morgengrauen uralte Reinigungsrituale
durch? Ich blicke mich um und vergewissere mich, dass mich niemand beobachtet. Ro und Susan würden bestimmt über meine versponnenen
Bemühungen lachen.
Ich ziehe mich vom Rand zurück und lehne mich an einen Felsen, um diesen Ort und dieses Bild in mich aufzunehmen. Bald erkenne
ich, dass dieser kleine Teich ein Dreieck ist – was für mich nicht von Bedeutung gewesen wäre, hätte ich nicht gewusst, dass
die Kelten diese Form besonders verehrten. Sie betrachteten die Drei als die perfekte Zahl. Ich richte mich auf und nehme
den Teich aus verschiedenen Blickwinkeln in Augenschein. Er erinnert mich an die dreifache Göttin – eine keltische Vorstellung
von Frauen, die sich von der Jungfrau zur Mutter zum alten Weib entwickeln –, und dass auch ich zu so einer Frau geworden bin, welche die frühen Stadien des Lebens durchlaufen und daher viel zu bieten
hat. Dieser Anblick meines Gesichtes, wiederbelebt in diesem symmetrischen Teich, ist ein Zeichen, dass ich mir Zeit nehmen
muss, mich zu meinem Körper, meiner Seele und all meinen Erfahrungen zu bekennen; es ist höchste Zeit, mich selbst zu ehren.
Ich habe nie daran gedacht, mich zu feiern, vor allem nicht meinen Körper – nicht ein einziges Mal –, nicht nach dem ersten Sex, nicht nach der Geburt unserer Söhne, nicht nachdem ich sie großgezogen hatte, nicht nach den
unzähligen Malen, in denen ich meine Arme ausstreckte, um andere zu trösten. Ich – die ich über die Wichtigkeit weiblicher
Energie mit ihrer warmen Vitalität, ihrer Sehnsucht nach Ritualen, ihrem Verlangen nach Familie und ihrer enormen Fähigkeit,
die Kultur aufrechtzuhalten, rede und schreibe – habe wegen meines ständigen Getriebenseins meine weibliche Substanz verloren.
Ich bin geradewegs nach vorn geeilt, bin auf Ziele zugestürmt, die mir meist von anderen, an denen ich mich gemessen habe,
gesetzt wurden. Als jemand mich vor Kurzem fragte, was mich bedrückt, konnte ich nicht darauf antworten, vor allem, weil ich
mir nicht die Zeit nahm, der Frage auf den Grund zu gehen. Aber jetzt weiß ich, was in meinem Leben fehlt und was ich dringend
wiederhaben möchte – eineIntegration meiner femininen und maskulinen Aspekte, wobei die einen die anderen nicht überlagern. Ich wünsche mir ein Gefühl
des Gleichgewichts, das in meinem Innersten beginnt.
Ich verlasse den Berggipfel und bin dankbar dafür, an einem Ort gewesen zu sein, dessen Kultur die Stadien und Altersstufen
des menschlichen Lebens ebenso ehrt wie den Lauf der Jahreszeiten. Die Kelten betrachteten die Erfahrungen einer Frau als
heilig. Sie verunglimpften das Altern einer Frau nicht, sondern hielten es in Ehren. Ich habe jetzt einen flüchtigen Einblick
in das gewonnen, was vor mir liegt, und, mehr noch, warum ich dazu getrieben war, überhaupt hierherzukommen.
Es wird Zeit, vom Berg herabzusteigen, und ich hüpfe fast, denn ich kann jetzt erkennen, wohin ich meine Füße setzen muss
und wie der Pfad verläuft. In kürzester Zeit bin ich unten angekommen und gehe beschwingt auf den Ort zu, verlangsame meinen
Schritt erst, als ich bemerke, dass
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