Zurück ans Meer
mir ans Herz gelegt hat. Innerhalb von Minuten
sehe ich sie oben stehen, gefährlich nah am Rand, die Arme ausgebreitet wie ein Adler, der sich in die Lüfte schwingen will.
Mir fällt ein Spruch aus dem Hebräischen ein, der etwa so lautet: »Vergiss nicht, freundlich zu Fremden zu sein, denn alle,
die sich so verhalten haben, sind Engeln begegnet, ohne sie zu erkennen.«
Ich trotte weiter, auf das Ufer zu, komme an zahllosen Steinskulpturen vorbei – Steine in Form von Fischen, einem Herz, ineinander
geschlungenen Kreisen – und ebenso zahllosen Cairns. Genau wie Katrina gesagt hatte, ist die Uferlinie fast zwei Meter hoch
mit Steinen bedeckt. Mich bewegt das Geräusch des Wassers, das über und unter diese gerundeten Steine rauscht und sich dann
mit donnerndem Brüllen wieder zurückzieht.
Bisher habe ich mir nie viel aus Steinen gemacht und lieber Muscheln gesammelt, wenn ich am Strand war. Aber da ich nun weiß,
dass diese Insel aus dem ältesten Gestein der Welt besteht, betrachte ich die Steine mit neuem Blick. Innerhalb kürzester
Zeit werden sie für mich zu Schmuckstücken, und ich möchte sie alle haben. Bald darauf krieche ich auf allen vieren, betrachte
ihre Größe und Formen.
Woher kommen sie? Und wie lange hat es gedauert, sie so glatt, so seltsam geformt, so vollkommen in ihrer Unvollkommenheit
zu machen? Bei genauerem Hinschauen entdecke ich ihre charakteristischen Merkmale – die feinen Schattierungen von Braun, Weiß,
Grau, Schwarz, und ich merke, dass jeder offenbar seine eigene Botschaft in sich trägt. Ich greife nach einem eiförmigen Stein
aus dem berühmten grünen Marmor und stecke ihn in meinen Rucksack. Er wird das Symbol für mein Ausschlüpfen sein. Da sind
auch mehrere herzförmige, und ich nehme so viele, wie ich zu tragen wage – einen für meinen Mann, zwei weitere, die meine
Söhne und deren Familien verkörpern, und einen rosa gefleckten, der von einem wiedererwachten Selbst kündet. Ein grauer, kreisrunder
Stein mit einem weißen Streifen um die Außenkante wird zu Hause auf meinem Schreibtisch liegen, um mich daran zu erinnern,
dass sich der Kreis geschlossen hat. Der schwarze Stein mit dem weißen Strich, der spiralförmig zur Mitte verläuft, wird mir
ins Gedächtnis rufen, dass ich mich immer wieder in mich hineinwinden und mit dem herauskommen muss, was ich gelernt habe.
Mit vollgepacktem Rucksack verlasse ich den Strand und wandere hinüber zum nahe gelegenen Moor.
Es ist gar nicht so leicht, von den Steinen auf das Moor zu kommen. Ich muss zwei große Felsen erklimmen, in ein Tal hinabgehen
und dann über einen Stacheldrahtzaun klettern. Ich schwitze und bin ein wenig außer Atem, aber nachdem ich um eine Biegung
gekommen bin, sehe ich meinen Vater – nicht leibhaftig, aber sicherlich seinen Geist –, der munter einen Glen hinauf- und den nächsten hinabsteigt, auftaucht und wieder verschwindet, seinen zerschlissenen, mottenzerfressenen
Kilt im Wind flattern lässt und sein Lieblingslied von Harry Lauder singt: »Roamin’ in the gloamin’ … Oh, it’s lovely roamin’ in the gloamin’.«
Das stimmt wirklich, Daddy
, sage ich zu mir.
Du hast mich dazu gebracht, hierherzukommen, nicht wahr? Irgendwie
wusstest du, dass ich mich verrannt hatte, und dass dieser Ort mein Tonikum sein würde.
Mehr als alles andere möchte ich seine dröhnende Stimme wiederhören – ihn in all seiner Pracht sehen. Er war ein einfacher,
jedoch unkomplizierter Mann, dessen Weisheit, wie ich allmählich begreife, aus seinem Erbe stammte. »Du kannst den Augenblick
nicht mitnehmen«, sagte er immer. »Zögere nicht. Ergreife ihn, wenn er kommt.« Ich jage ihm nach und erwische ihn, wie er
einen Schluck Scotch aus seiner Feldflasche nimmt – »Nur ein kleiner Tropfen, um die Kälte abzuwehren«, sagte er immer. »Wanke
nicht, mein Mädchen«, rief er, wenn er das Gefühl hatte, dass ich mich fürchtete oder etwas nicht riskieren wollte. Der Geist
blickt hoch, und ich schwöre, dass er meinen Blick auffängt. Fast höre ich ihn sagen: »Auf dieser kleinen Insel wirst du alles
finden, was du brauchst, um dein Ziel zu erreichen.«
Dann, genauso schnell, wie er erschienen ist, verschwindet er. Wieder werde ich daran erinnert, dass nach der keltischen Tradition
der Mensch durch drei Kräfte geboren wird: das Zusammenkommen von Mutter und Vater, den Wunsch des Geistes eines Vorfahren
nach Wiedergeburt und die Einmischung des
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