Zurück ans Meer
Gottes oder der Göttin. Im Moment habe ich das Gefühl, dass ich dem Geist meines
Vaters begegnet bin, der sich wünscht, durch mich wiedergeboren zu werden.
Es beginnt zu nieseln. Ich gehe zurück zu meinem Rucksack und ziehe den Regenmantel über, als sich auch schon eine Regenbö
aus den dunklen Hügeln ergießt. Ich renne in Richtung der angegebenen Höhle am nassen Strand entlang, blicke mich hektisch
nach jeder Einbuchtung in den Klippen um, die auf eine Höhle hindeuten könnte. Regen klatscht mir gegen die Wangen, und ich
befürchte, in die falsche Richtung zu laufen. Doch nach ein paar Schritten macht die Strandlinie eine Biegung, und da ist
sie – eine große Öffnung und ein Boden aus schneeweißem Sand.
Höhlen wirken auf mich meist dunkel, bedrückend und klaustrophobisch, doch diese ist flach, hell und einladend. Ich trete
durch einen birnenförmigen Felsspalt, der über die Jahre vom Meer ausgewaschen wurde, und fühle mich sicher. Mir ist, als
hätte ein Künstler die Felsformationen in verschiedenen Tönen von Rot, Kastanienbraun und Violett bemalt, mit Akzenten in
Blau, Grün und schimmerndem Schwarz. Obwohl die Decke so hoch ist, dass ich aufrecht stehen kann, verlockt mich dieser Zufluchtsort
dazu, mich zu setzen, zu entspannen und mich seinem Schutz zu überlassen. Natürlich erinnert er mich an eine Gebärmutter,
wofür Geschichtenerzähler die Höhle seit Langem als Metapher verwendet haben. Aber was mich beim Umschauen erstaunt, ist die
Schönheit ihres Inneren. Ich lasse mich im Schneidersitz nieder, gerne bereit, den Gezeitenwechsel abzuwarten.
»Hallo da drinnen«, schreckt mich Dolores keine zehn Minuten später auf, duckt sich aus dem Regen herein und klopft leicht
gegen die Wand. »Hab ich da nicht ein schönes Fleckchen für uns gefunden, und so weiblich, nicht wahr? Gott ist gut, das stimmt,
aber er hatte eine tolle Mutter«, sagt sie und lacht über ihren seltsamen Humor. »Alles, was Form und Inhalt ist, kommt aus
einem dunklen Ort, wissen Sie. Tut gut, im Frühjahr darüber nachzudenken, wenn wir uns bereit machen, die neue Saat auszubringen.«
Ich lächle über ihre unkomplizierte Weisheit. Sie holt eine Thermosflasche mit Tee heraus, nimmt einen Schluck, und packt
dann ein großes Sandwich mit Hummus, Tomaten, Käse und Bohnensprossen aus. Ich lehne mich an die Wand und überlasse mich diesem
Zwischenspiel, im Moment sprachlos. Das hier ist alles, worauf ich gehofft hatte und mehr, aber gleichzeitig zu viel – die
Erdenergie, das Zusammentreffen mit meinem Vater und nun die Bereitschaft, in dieser Höhle meinem femininen Selbst nachzugeben.
In einem ganzheitlichen Leben geht es nicht darum, ein Anderssein erlangen zuwollen, sondern tief in jeden Augenblick, jede Stunde oder Jahreszeit einzudringen. Irgendetwas Unsichtbares geschieht, und
diesmal einfach dadurch, dass ich meinem Instinkt folge und geduldig bin. Ich richte mich auf, begreife, dass es Geduld ist,
die dieser Strand im Westen uns lehren soll. Schon komisch, dass Verwandlungserfahrungen mit einem sanften Reiben beginnen
– sie erfolgen intuitiv, wie meine Zusage an Dolores heute. Wenn man Glück hat, ist die Reise voller Überraschungen. In dieser
kurzen Zeit auf Iona tut mir die Person inzwischen leid, die gut markierte Pfade braucht.
»Sieht so aus, als müssten wir noch eine Weile hierbleiben«, bricht Dolores das Schweigen. »Wir müssen den Gezeitenwechsel
abwarten, sonst werden wir durch und durch nass.«
Eine weitere Geduldsübung, denke ich. »Ich hätte nichts gegen einen kleinen Mittagsschlaf«, sage ich und mache es mir, ohne
auf ihre Meinung zu warten, mit meinem Rucksack als Kissen bequem und schlafe ein.
Stunden später wache ich in hellem Sonnenschein und bei Ebbe auf, die einen breiten Sandstrand direkt vor dem Höhleneingang
hinterlassen hat. Dolores ist nirgends zu sehen, sie hat mir jedoch eine Nachricht auf dem Rucksack hinterlassen:
Wenn man sich spirituelle Sphären nicht erschließt, wird es niemals Frieden geben.
Möge das Entzücken dieses Tages fortbestehen.
Dolores
So elfenhaft, wie sie ist, spüre ich, dass wir uns wiederbegegnen werden.
Da der Nachmittag erst halb vorüber ist, beschließe ich weiterzugehen, nicht zurück zum Ort und der Gnade, die ich imWesten finden könnte, sondern nach Süden, zur Klarheit, die mich sicherlich an der Columba’s Bay erwartet. Dort wollte ich
unbedingt hin, seit ich erfahren
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