Zurück ans Meer
Zeit. Dabei wird dem Suchenden das größte
aller Geschenke zuteil – Klarheit. Wieder hat sich der Kreis geschlossen. Ich muss stets bereit sein, vorwärts zu reisen –
die Spirale bis in die Mitte zu verfolgen und auch wieder hinaus. Dann, und nur dann, werde ich ganz sein, verbunden mit allem,
was ich bin.
Unvollendete Reise
Ende April
Es war Zeit, in mein wahres Leben zurückzukehren.
Nach dieser Reise auf eine namenlose Insel,
Wo ich mich bei Sonnenaufgang trunken
vor Licht niederlegte.
May Sarton
Die stets zuverlässige Fähre macht eine ihrer letzten täglichen Überfahrten. Bisher schaute ich selbstzufrieden zu, wie die
Menschen kamen und gingen, da ich mich eingelebt hatte und Teil dieser kleinen Insel geworden war. Doch alle guten Dinge müssen
leider ein Ende nehmen, und morgen reise ich ab. Deshalb sitze ich an meinem Schreibtisch, trinke ein Glas Port und versuche
die vielen Gedanken darüber einzufangen, was diese Erfahrung für mich bedeutet hat.
Auf der Straße spielt ein Fiedler eine fröhliche keltische Melodie, die wie etwas aus
Riverdance
klingt. Ich höre auf zu schreiben und schaue aus dem Fenster, nehme den schwindenden Tag in mich auf, während die Sonne irgendwo
im Meer versinkt. »Auf Iona«, schrieb Kenneth Steven, »kommt es darauf an, den Wind zu besiegen, mit trockenen Schuhen heimzukommen,
ein Feuer in Gang zu setzen. Ich bin mir nicht sicher, ob es hier keine Zeit oder mehr Zeit gibt, ob das Licht stärker ist
oder nur leichter zu sehen.« Tja, Mr Steven, ich bin mir auch nicht sicher. Ich schreibe:
Mir ist, als wäre ich aus einem Traum erwacht. Vor nur drei Wochen setzte ich in ein sagenhaftes Königreich über, verfiel
in Trance, wanderte herum wie ein Mensch auf dem Mond, ungestört bis auf ein paar zufällige Begegnungen, die mich zum nächsten
Ziel führten, eine Art Verbinde-die-Punkte-Dasein.
Etwas Unsichtbares ist hier geschehen. Trifft das nicht auch auf die Entwicklung im Erwachsenenalter zu – eine Verschiebung
hier, eine Veränderung da? Eines Tages wird man wach, aus welchem Grund auch immer, und ist nicht mehr dieselbe wie amTag zuvor. Weil Iona so weit entfernt vom Üblichen liegt, bietet es einen fruchtbaren Acker für das Gedeihen reinen Denkens,
origineller Ideen und der eigenen Rettung. Joseph Campbell gestand: »Man braucht einen Ort, an den man fast jeden Tag im Herzen,
im Geist oder in seinem Haus gehen kann, an dem man niemandem etwas schuldig ist und an dem einem niemand etwas schuldet –
ein Ort, der etwas Neues und Vielversprechendes erblühen lässt.« Für mich war Iona dieser Ort.
Allem Anschein nach war ich hergekommen, um Ganzheit zu finden – einen Weg aus der Fragmentierung und Verstrickung, die mein
Leben bestimmte. Hier fand ich Einfachheit. Ich stellte mich den Herausforderungen der Elemente wie Regen, Graupel und starkem
Wind, doch ich fand eine Ruhepause von all den Ablenkungen und selbst auferlegten Dringlichkeiten meines Lebens zu Hause.
Mehr als alles andere sind es die Menschen – die Inselbewohner, die ich dabei beobachtet habe, wie sie ihr Leben gestalten,
statt es nur geschehen zu lassen –, die mir geholfen haben, das zu erkennen, worauf es wirklich ankommt.
Ich lege meinen Stift weg und schaue aus dem Fenster auf das kleine Dorf, das geschäftig dem Tagesende zustrebt – Frauen eilen
zum Markt, Bauern treiben ihre Schafe von einer Weide zur anderen, mehrere Fischerboote versuchen im kabbeligen Kanal zu ankern.
Jeder Inselbewohner ist ein Rädchen im Getriebe, jeder arbeitet für das große Ganze, nicht nur für den Erfolg des Einzelnen.
Mehr noch, die meisten wissen, was von ihnen täglich erwartet wird – wie viel sie erreichen müssen und wann sie sich anderen
Unternehmungen, Neigungen oder Hobbys zuwenden können. Ich verlasse diese Insel in der Hoffnung, dass die Forderungen, die
weiterhin ihr hässliches Haupt erheben – Schuldgefühle, Geschwindigkeit, Perfektionismus etc. –, sich auflösen, wenn ich mich an Iona und das erinnere, was ich hier erlebt habe.
Jetzt muss ich meine Sachen packen. Ich werfe hauptsächlich schmutzige Kleidung in meinen Rucksack, wickle verschiedene Einkäufe
– einen Becher aus dem Iona Pottery Shop, ein Stück Buntglas aus der Abtei und natürlich mein begehrtes, handgeschnitztes
Kreuz – in Pullover und Jacken ein. Letzteres soll mich daran erinnern, in jede Richtung zu gehen, geduldig zu sein statt
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