Zurück ans Meer
sie vor und bestellt sich ein Pint. »Was nehmen Sie?«
»Einen Whisky«, sage ich kühn. »Ich habe gehört, das nennt man schottische Kommunion.«
»Gut gewählt – der wird Sie für das, was kommt, auflockern«, sagt sie und legt zwei Pfund auf den Bartresen. »Ich lade Sie
ein!«
Die Nacht ist feucht, die Luft schwer. Wir bewegen uns auf eine der offenen Türen zu, wo es etwas kühler ist. Aber selbst
hier am Rande der Menge kann man sich kaum noch unterhalten. Auf der Bühne sind Musiker erschienen und stimmen ihre Fiedeln,
Flöten, Pfeifen und ein Akkordeon. »O mein Gott«, keucht Dolores fast, als sie sieht, wie eine Frau die Bühne betritt. »Fiona
ist da. Sie ist eine erstaunliche Sängerin – eine der besten.«
Stille legt sich über den Raum, als alle die Anwesenheit dieser ziemlich großen, exzentrischen Frau mit roten Haaren bemerken,
die anscheinend in meinem Alter ist. »Sie singt Feenmusik«, flüstert mir Dolores zu. »Sie werden sich glatt in sie verlieben.«
Fiona nimmt auf einem Stuhl Platz, der für sie hingestellt wurde, greift nach ihrer uralten Harfe und wartet, bis es ganz
still wird in der Halle, eine Frau, die ihr Publikum eindeutig im Griff hat. Zum Aufwärmen zupft sie die Harfe, bis eine Melodie
Form annimmt, als improvisiere sie, und doch ist die Musik bereits so melodisch, dass sie mich fast in Trance versetzt. Irgendwann
beginnt sie zu singen, zuerst ganz leise, ihre tiefe Altstimme klingt besänftigend und voll. Ich schließe die Augen und lausche
dem Text – es sind Lieder über Sehnsucht, Lieder über Freude, aber meist Lieder über Schottland, ihre geliebte Heimat. Ich
möchte, dass sie niemals aufhört. Zum Abschluss singt sie von einer weisen Frau.
Frau vom Weisheitsbaum
Göttin des Menschheitstraums
Besingt die Einheit, nach der wir streben.
Erschaffen aus Ewigkeit
Nackt im Rätsel, das sie bleibt
Besingt die Einheit, nach der wir streben.
Grimmig und sanft
Weise und mutig
Schlicht in ihrer Erhabenheit
Wagt sie die Einheit, nach der wir streben.
Sanfter Applaus ertönt, als wäre das Publikum aus derselben Trance erwacht wie ich. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass sie
großartig ist?«, mischt sich Dolores ein. »Für mich verkörpert sie das alte Weib.«
»Ein altes Weib!« Entsetzt blicke ich Dolores an. »Wie können Sie sie so nennen?«
»Weil es ein Kompliment ist«, erwidert Dolores. »Im Gälischen nennen wir eine Frau ihres Alters und ihres Formats die
cailleach
– die ältere Frau, die mächtig und äußerst selbstsicher ist. Sie braucht die Bewunderung anderer nicht. Das alte Weib weiß,
wer sie ist – ähnlich wie Sie, Joan, das alte Weib!«, brüllt sie fast, um sich gegen die Band durchzusetzen, die gerade aufspielt,
während sich die Halle mit tanzenden Paaren füllt.
»Alte Weiber sind für unsere Männer von großem Interesse«, neckt mich Dolores. »Ich habe sie über Sie tuscheln hören, seit
ich hier bin. Sie finden es faszinierend, wie begeistert Sie von der Insel sind.«
»Ich glaube, ich brauche noch einen Whisky«, sage ich und gehe zurück zur Bar, ein Fehler, wie ich merke, als ich unterwegs
von einem älteren Mann angesprochen und gebeten werde, bei einem Squaredance mitzumachen. Die Musik ist ausgelassen und das
Tanzen lebhafter, als ich erwartet hatte, und wir bewegen uns in schwindelerregendem Tempo. Ich mache einen schwachen Versuch,
auf dem linken Fuß zu hüpfen, mit dem rechten zu stampfen, dann zweimal zu hüpfen und dreimal aufzustampfen. Aber ich gebe
den Versuch rasch auf und bewege mich nur noch. Wir tanzen in einer Reihe, halten uns jeweils an der Person vor uns fest.
Wennman das Ende der Reihe erreicht, wird man von einem Tänzer zum nächsten gewirbelt. Ein Mann fängt mich gerade noch auf, bevor
ich zu Boden falle. Mit gerötetem Gesicht und schweißüberströmt bin ich dankbar, als dieser Ausdauertest schließlich endet,
und verschwinde nach draußen an die frische Luft.
Durch das Fenster spähe ich in den Raum und entdecke einige, die mir unwissentlich den Weg gewiesen, ein Steinchen in den
Teich meiner Weisheit geworfen haben. Da ist der Holzschnitzer, allein in einer Ecke mit einem Pint; Katrina, die den Schal
um ihre Schultern zusammenzieht und die Paare beäugt, aber anscheinend nicht daran interessiert ist, selbst Teil eines Paars
zu sein; Daniel, der alle umarmt, stets der vollendete Portier der Insel; und natürlich Dolores, unschuldig, unberührt,
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