Zurueck in die Nacht
wobei ich unterwegs noch
einmal ein paar Stunden zurück fahre, bis es Nacht ist. Nach etwa zehn Minuten
(in denen ich mich nur zweimal verfahre) erkenne ich Clarissas Straße wieder.
Wir stellen die Maschine eine Straße weiter ab, dann gehen wir zu Fuß zu ihrem
Haus zurück.
Die Straße ist
menschenleer und still, wie es um diese Zeit zu erwarten ist. Wenn die
Informationen im Internet stimmen, müsste dies die Nacht vor dem Tag sein, an
dem Clarissa zum letzten Mal gesehen wurde. Also müssten wir es eigentlich
mitbekommen, wenn sie das Haus verlässt, und ihr mit etwas Glück folgen können.
Alles, was wir dazu brauchen, ist ein gutes Versteck.
Wir beschließen,
uns zu verteilen. Zum einen, weil es weit und breit keinen Platz gibt, an dem
wir uns alle zusammen verstecken könnten, und zum anderen, weil wir von drei
verschiedenen Orten aus einen besseren Überblick haben. Raphael verzieht sich
um die Hausecke hinter ein paar Büsche, Patti duckt sich hinter eine kleine
Mauer, die zu einem der Nachbarhäuser gehört, und ich entdecke ein paar
Mülltonnen, die mich verbergen müssten. Ich hoffe nur, dass nicht ausgerechnet
heute die Müllabfuhr kommt. Und dann warten wir.
Die Zeit wird
mir ziemlich lang. Zuerst passiert zwei, drei Stunden lang gar nichts, außer
dass eine Katze auf eine der Mülltonnen springt und mich damit genau so erschreckt
wie ich sie durch meine unerwartete Anwesenheit. Empört miauend zieht sie sich
zurück und es herrscht wieder Stille. Kurz, nachdem es von der offenbar nicht
allzu weit entfernten Kirche sechs geschlagen hat, öffnet sich die Haustür von
Clarissas Haus plötzlich und ich halte gespannt den Atem an. Aber es ist nur
eine Frau im Kostüm, die zu einem am Straßenrand geparkten Auto stöckelt und dann
davon fährt. Ab sieben wird es langsam etwas lebhafter, aber ich sehe nur
Erwachsene in mehr oder weniger wachem Zustand, alle offenbar auf dem Weg zur
Arbeit. Ich muss mir Mühe geben, aufmerksam zu bleiben. Wäre ja zu blöd, mir
hier stundenlang die Beine in den Bauch zu stehen und dann den kurzen Moment zu
verpassen, in dem Clarissa aus der Tür tritt. Ich gähne und versuche, mir
unauffällig die Beine zu vertreten, die vom langen Stehen schon kribbeln. Die
Haustür öffnet sich wieder – und da ist sie.
Ich atme tief
durch. Am liebsten würde ich sofort losstürmen und sie in die Arme schließen,
so froh bin ich, sie wohlbehalten und äußerlich unverändert vor mir zu sehen.
Doch ich reiße mich zusammen. Erst will ich wissen, was hier los ist.
Clarissa
schließt die Haustür hinter sich und geht dann die Straße hinunter, ganz dicht
an meinem Versteck vorbei. Ich stelle mir ihr Gesicht vor, wenn sie mich so
plötzlich hier entdecken würde. Fast habe ich das Gefühl, mein Herz klopft so
laut, dass sie es einfach hören muss. Doch sie geht zügig weiter, ohne auch nur
einen Blick in meine Richtung zu werfen. Jetzt, aus der Nähe, habe ich das
unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas an ihr anders ist, aber ich kann es nicht
ausmachen. Sie sieht eigentlich aus wie immer – dunkle Jeans, dunkle
Kapuzenjacke, Turnschuhe, Rucksack. Weder fröhlich noch traurig. So hat sie in
Schottland jeden Tag auf dem Weg zur Schule ausgesehen.
Als sie am Ende
der Straße auf die Hauptstraße abbiegt, verlasse ich mein Versteck und folge
ihr. Raphael und Patti schließen sich mir an.
„Ist sie das?“,
flüstert Raphael mir zu.
Ich nicke. Patti
sagt nichts. Aber an ihrem Gesichtsausdruck sehe ich, dass diese Begegnung sie
ziemlich mitnimmt.
„Alles in
Ordnung?“, frage ich sie leise.
Sie zögert, nickt
dann. „Ja, schon. Ist nur so seltsam, jemanden, den ich nur aus einem Traum
kenne, plötzlich leibhaftig vor mir zu sehen. Total irreal.“
„Also sieht sie
aus wie die Clarissa in deinem Traum?“
„Absolut.“ Sie
schüttelt sich. „Weißt du, es ist zwar blöd, immer noch Zweifel gehabt zu
haben, nachdem du mit uns mal eben quer durch die Zeit gejagt bist, aber das
hätte ja immer noch ein Trick sein können. Aber das hier – das ist einfach
echt. Und das macht mir doch etwas Angst.“ Sie sieht mich unsicher an. „Albern,
oder?“
„Albern?“ Ich
schüttele energisch den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. Was glaubst du denn, wie
ich mich gefühlt habe, als ich gemerkt habe, dass ich etwas völlig Verrücktes
kann? Dass ich so was wie ein echter Freak bin? Angst ist da noch harmlos
ausgedrückt. Ich hatte total Schiss! Habe ich übrigens immer noch.“
„Du?“ Ihre
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