Zurück in die Zwischenwelt (German Edition)
war und sich ein tiefes Loch vor uns öffnete, oder besser gesagt ein unendlich langer Spalt, als ob ein Erdbeben die hier rötliche Erde zerrissen hätte. Von der Kante aus schaute ich die steilen Hänge hinunter. Unten sprudelte hellblaues Wasser und ich bemerkte zahlreiche Leute am Flussufer.
„Aus der Ferne gesehen hätte ich mir nie vorstellen können, dass es hier so tief ist“, meinte Rob.
„Wieso gibt es plötzlich so viele Leute hier unten?“, fragte ich Mona.
„Einige von ihnen sind gestorben und sind nun bereit, weiterzugehen“, erklärte sie. „Ihre noch lebenden Verwandten und Freunde begleiten sie auf dieses unbekannte Abenteuer: Sie versuchen, den Fluss zu überqueren.“
Auf der anderen Seite des Canyons ragte ein immenser Berg empor: Er sah aus wie eine Mischung aus dem Empire State Building und dem wundervollen Acopan-Tepui. Die Wände waren zum Teil überhängend – eine Besonderheit, die wahrscheinlich durch Erosion entstanden war. Als mein Blick den Felsen hinauf wanderte, musste ich meinen Kopf mehr und mehr nach hinten biegen. Der Berg war so hoch, dass sein Gipfel im Wolkenmeer verschwand. Anscheinend herrschte dort oben sogar ein anderes Klima.
Wir mussten aber zuerst hinunter, den Fluss überqueren und dann wieder hinaufsteigen. Der Weg war steinig, aber trotzdem verletzten sich unsere Füße nicht. Ein frischer Wind wehte aus der Schlucht und machte die heiße Temperatur sofort erträglicher. Als wir unten ankamen, ging ich sofort zum Wasser – Mona hatte gesagt, es sei genießbar. Als ich dabei war, zu trinken, bemerkte ich ein kleines Mädchen mit goldenem lockigem Haar, das bis in die Mitte ihres Rückens reichte. Sie sah wie ein Engel aus. Anhand ihrer Größe schätze ich ihr Alter auf fünf Jahre. Sie stand neben einer sitzenden Frau und fuhr mit ihrer Hand langsam deren Rücken hinauf und hinunter, als ob sie sie trösten würde. Die Frau saß mit eingesackten Schultern auf dem Boden, ihr Kopf war gesenkt und ihre Hände bedeckten das Gesicht. Sie machte den Eindruck tiefster Hoffnungslosigkeit.
Ich ging zu ihnen hinüber. Das Mädchen drehte sich sofort zu mir um und sah mich mit ihren grünen verweinten Augen verzweifelt an.
„Was ist denn passiert?“, fragte ich besorgt.
„Meine Mutter lässt mich nicht gehen“, erwiderte das Mädchen.
Die Mutter weinte einfach weiter, als ob sie mich gar nicht bemerkt hätte. Sie schien dermaßen in ihre Gefühle vertieft zu sein, dass sie ihre Außenwelt gar nicht mehr wahrnahm.
„Wohin willst du denn?“, wollte ich wissen.
„Auf die andere Seite des Flusses und dann den Berg hinauf.“
„Oh.“
„Das ist der einzige Weg, den ich gehen kann. Ich habe kein Ausweg. Aber sie will das nicht und hindert mich daran.“
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und blieb still. Das Mädchen wandte sich wieder seiner Mutter zu und setzte sich neben sie.
Ich schaute mich um. Weiter oben gab es ein Paar, das sich Hand in Hand gemeinsam der starken Strömung stellte und den Fluss zu überqueren versuchte. Ich fragte mich, ob beide gestorben waren oder nur einer der beiden. „Es muss schwierig sein, den Geliebten gehen zu lassen, wenn die Zeit gekommen ist“, dachte ich, „und das Unvermeidbare zu akzeptieren, ohne dagegen zu kämpfen.“
Ich suchte Robs Blick, aber er schaute tiefer in die Schlucht hinunter. Dort stand ein Mann in hüfthohem Wasser, der versuchte, große Steine aus dem Flussbett zu heben und sie aufeinanderzutürmen, als ob er eine Mauer bauen wolle. Die Strömung war aber so stark, dass er es nur mit Mühe schaffte, auf den Beinen zu bleiben. Ab und zu riss ihn ein Wasserstrudel um, dann verschwand er kurzerhand samt Stein im Fluss, um sich schließlich einige Meter stromabwärts fluchend wieder aufzurichten. Nicht weit entfernt von ihm am Ufer stand eine junge Frau, die sein Treiben beobachtete. Sie schüttelte den Kopf, rief ihm etwas zu und gestikulierte wild mit ihren Händen. Aber wahrscheinlich konnte er sie gar nicht hören, weil das Getöse des Flusses so laut war. Vielleicht wollte er sie auch nicht hören, jedenfalls setzte er seine Arbeit unbeirrt fort.
Rob kommentierte auf seine trockene Art das Geschehen: „Dieser Typ versucht gerade, mit seinen nackten Händen eine Stein-Burg im reißenden Fluss zu bauen …“
„Nicht aufgeben, das kann eine gute Eigenschaft sein“, meinte Mona. „Aber manchmal muss man auch die Stärke besitzen, sich einzugestehen, dass es Zeit ist,
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