Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
unsichtbar, unhörbar. Aber er konnte ihre Gegenwart spüren. Die Wärme, die von ihr ausging, tröstete ihn auf unerklärliche Weise.
Und dann vernahm er in seinem Inneren eine Stimme. „Kämpfe um dein Leben!“, beschwor sie ihn. „Was immer auch deinem Körper zugestoßen ist, die Seele bleibt dein. Sie ist frei. Halte durch. Tu es für die, die nach dir suchen und auf dich warten. Die dich lieben.“
Nein! Er wollte nicht durchhalten! Er wollte es aus sich herausschreien, sich gegen dieses Leben wehren, das vor langer Zeit schon aufgehört hatte, sein Leben zu sein. Er wollte raus aus diesem Gefängnis und zurück in das Licht auf der anderen Seite, wo seine Mutter auf ihn wartete.
Die Frau hatte auch dann noch kein Wort gesagt, als sie sich über ihn beugte und ihre sanften, gütigen Hände seinen bebenden Körper mit ihrem Mantel zugedeckt hatten. Sie hatte sich nicht vor ihm gefürchtet oder angewidert abgewendet. Ein Engel, der erschienen war, ihn von seinen Qualen zu erlösen, eine Zuversicht spendende Erscheinung in seinem dunklen Kerker. Sie würde ihm den Weg in die Freiheit zeigen.
Zunächst hatte er sie für Sina Bertram gehalten, aber das konnte natürlich nicht sein. Sie war tot. Er hatte sie getötet. Oder war das ebenfalls bloß ein Traum gewesen? Ein Traum – wie Karo? Als der Engel seine Zweifel ausräumte, indem sie sich mit Namen vorstellte, wusste Angel, woher er ihre Stimme kannte. Die lebendige Erinnerung an einen Tag aus längst vergangenen Zeiten an Bord eines alten Segelschiffes war ihm sofort gegenwärtig – die Bilder der unzertrennlichen Freundinnen Karo, Beate und Suse, die auf der Ostsee Abschied nahmen von Catherine Tailor.
Cat, die an Karos Stelle durch die Hand seines Vaters gestorben war, wie er selber auch sie ein Opfer des Marquess’.
Beate Schenke hatte ihn in der Dunkelheit seines Verlieses nicht erkannt. Und er hatte sie in dem Glauben gelassen, einen völlig Unbekannten vor sich zu haben. Die Scham über seinen erbarmungswürdigen Zustand hätte ihn umgebracht.
Als er nicht einmal unter ihrem Mantel aufhörte zu zittern wie Espenlaub, hatte sie sich neben ihn gelegt und ihren Körper an seinen zerschlagenen Rücken mit den wulstigen Narben gepresst. Sie hatte sich nicht an dem Dreck und Gestank gestört, sondern ihren Arm um ihn geschlungen und sich darauf konzentriert, ausreichend Körperwärme zu erzeugen, um ihm davon abzugeben. Und als er sie mit heiserer Stimme bat, ihn zu berühren, hatte sie sogar das ohne Zögern getan. Sie hatte ihn wie selbstverständlich angefasst und so lange mit sanftem Druck massiert, bis er Befriedigung gefunden hatte.
Er hatte schreien wollen bei der Vorstellung, wieder alleingelassen zu werden. Er wollte Beate zurückhalten, sich an sie klammern und ihre Wärme um sich haben. Aber hier war sie nicht sicher! Der Marquess würde sie töten, so wie er es mit Catherine und Sina getan hatte.
Und wie es ihm jetzt ein offensichtliches Vergnügen bereitete, ihn, seinen eigenen Sohn, langsam zu Tode zu quälen. Ein Leben zählte in den Augen des Stojan Stojkow nichts. War er es, der ebenfalls die Verantwortung für den Tod seiner Mutter trug, der Frau, die ihm erschienen war, als er im Koma gelegen hatte?
Sie hatten ihn hier vergessen! Beate war nicht mit seinen Freunden zurückgekehrt, um ihn aus dieser Hölle zu retten. Diese Vorstellung und die Qualen des Entzuges drängten ihn unaufhaltsam weiter an den Rand des Wahnsinns. Er wollte bloß noch einen einzigen Schuss, einen, den letzten für immer. Warum kam niemand? Wenn er ganz laut rief, würden sie sich an ihn erinnern und ihn aus seinem Verlies holen. Vidor würde ihm das Heroin geben, wenn er ihm zu Willen war. Ihn schauderte vor Abscheu bei dem Gedanken. Zugleich wusste er, dass er alles mit sich machen lassen würde. Sie konnten ihm nichts mehr antun, was er nicht bereits ertragen hatte.
Was konnte schon schlimmer sein, als von der Welt vergessen zu werden? Was war en Folter und Missbrauch gegen das Vergessenwerden? Was war körperlicher Schmerz gegen vollkommene Isolation? Sie hatten seine Sinne abgeschirmt und ihn tagelang auf eine Weise am Boden angekettet, dass er sich nicht berühren konnte und allmählich jegliches Gefühl für sich selbst verlor. Seit Wochen vegetierte er ohne Geräusche, ohne die Möglichkeit, mit jemandem zu sprechen und etwas zu sehen.
An den Schmerz hatte er sich gewöhnt , hatte ihn schließlich sogar herbeigesehnt, weil er sich dann für einen
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