Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
rauswerfen? Warum? Was hat er verbrochen?“ Vor Verzweiflung hatte sie die letzten Worte fast geschrien. Sie zitterte am ganzen Körper und suchte Halt an der Wand.
Zwei Schwestern warfen sich heimliche Blicke zu. Natürlich wussten sie von der Rettungsaktion des Doktors und ebenso, vor wessen Zimmer man ihn zwei Tage später auf dem Flur der Neurologie halbtot aufgefunden hatte. Langsam wurden ihnen die Zusammenhänge klar. Das also ist die Kleine! Wirklich sehr interessant.
Verblüfft bemerkte Susann die Wandlung, die in den Mienen der Schwestern vonstattenging, denn jetzt spürte sie unverhohlene Neugier und ernsthaftes Interesse, die sie bei den Frauen geweckt hatte.
„Kommen Sie, Frau Seiler , gehen wir vor die Tür.“
Eine ältere Schwester war aufgestanden und drängte sich zwischen Susann und den finster blickenden Mann. Sanft fasste sie die Studentin am Arm und zog sie mit sich nach draußen auf den Gang, wo sie mit einer knappen Kopfbewegung die beiden Wachmänner wegschickte, die gekommen waren, um sich auf den Eindringling zu stürzen.
„Setzen Sie sich einen Augenblick. Ich bringe Ihnen ein Glas Wasser. Sie sehen reichlich mitgenommen aus“, bemerkte die Schwester in warmherzigem Ton.
Als Susann mit hastigen Schlucken das Glas geleert hatte, erklärte die Schwester leise: „Es ist tatsächlich verboten, Fremden den Zutritt zu den hier befindlichen Patienten zu gestatten. Und dabei spielt es keine Rolle, wie schwer der Patient verletzt ist oder in welchem Verwandtschaftsverhältnis mögliche Besucher zu ihm stehen. Allerdings kann ich Sie beruhigen, Doktor Stojanow hat nichts verbrochen, absolut nichts. Ich finde es sogar ausgesprochen nett von Ihnen, dass Sie sich bei ihm für seine Hilfe bedanken wollen. Er würde sich sehr darüber freuen, davon bin ich überzeugt. Und wenn es ist, wie Sie sagen, dass nämlich die Tür nicht verschlossen war, dann kann Ihnen selbstverständlich niemand einen Vorwurf machen, wenn Sie jetzt auf diesem Flur stehen. Die Automatik hat vermutlich ausgesetzt und das Verbotsschild ist ebenfalls etwas ungünstig angebracht, nicht wahr?“
Susann setzte ihre Brille ab, wischte sich über die Augen und blinzelte verwirrt. Hatte ihr die Schwester gerade zugezwinkert? Oder sollte sie nur mal wieder ihre Brille putzen?
„ Man kann es wirklich leicht übersehen. Ich verstehe Sie, Frau Seiler, besser, als Sie vielleicht vermuten, und deshalb denke ich … Ich werde den Chefarzt, Professor Vogel, von Ihrem Besuch unterrichten.“
Sie legte ihre Hand mit einer freundlichen Geste auf Susanns Schulter, als diese zur Flucht bereit aufspringen wollte. „Immer mit der Ruhe, Frau Seiler. Er ist kein Unmensch. Im Gegenteil, wenn es um den jungen Herrn Doktor geht, ist er sogar … Nun, das werden wir gleich sehen, wie er reagiert. Er allein entscheidet, wer Doktor Stojanow besucht und wer nicht. Gehen wir ihn fragen, ich bringe Sie zu ihm.“
Am nächsten Tag stand Susann Seiler in steriler Kleidung auf der Intensivstation und ließ sich von Professor Vogel die Funktionsweise des Respirators erklären.
Dem alternden Junggesellen war Angel Stojanow wie ein Sohn ans Herz gewachsen, sodass sein Interesse an der Frau, in die sich sein Junge angeblich verliebt hatte, niemanden verwunderte. Wenngleich Professor Vogel auch Oberschwester Erika seit ewigen Zeiten kannte und um ihr aufrichtiges Wesen und ihre ausgeprägte Menschenkenntnis wusste, bereitete es ihm zuweilen Probleme, ihren Vermutungen in Bezug auf Angels Gefühlswelt Glauben zu schenken. Besser also, er machte sich selbst ein Bild von diesem Mädchen.
Immer wieder betrachtete er Susann verstohlen von der Seite. Vom ersten Moment an hatten ihn ihre hellwachen Augen hinter der kleinen Brille mit dem silberfarbenen Gestell gefesselt. Ihr Blick war direkt und ehrlich und strahlte genauso viel Wärme und Optimismus wie Intelligenz und innere Stärke aus. Nachdem sich die erste Aufregung und ihre Unsicherheit gelegt hatten und sie nicht mehr ständig ihre nervösen Finger an dem silbernen Ring in ihrem Ohr spielen ließ, bemerkte der Professor eine unbändige, ansteckende Lebensfreude – genau das, wovon Angel momentan am meisten benötigte.
N och immer war ihm unbegreiflich, wann und wo sich den beiden jungen Leuten eine Gelegenheit zum Kennenlernen geboten haben sollte. War es nicht vielmehr so gewesen, dass Angel nicht einmal ihren Namen wusste, als er nach dem Unfall mit ihr in der Klinik aufgekreuzt war?
Weitere Kostenlose Bücher