Zurück ins Licht (Das Kleeblatt)
gesteigerten Wert auf die Anrede mit seinem Nachnamen.“ Von dem ohnehin niemand sicher sagen konnte, ob es tatsächlich sein wirklicher Name war. „Und er legt noch weniger Wert auf akademische Grade. Ganz einfach Angel. So und nicht anders möchte er, dass Sie ihn nennen.“
Susann biss sich auf die Lippen und schaute betreten in die lebhaften, grauen Augen des alten Mannes. „Sie kennen ihn … Angel sehr gut.“
„Ja. Na ja “, schränkte er ein, „so gut eben, wie man einen Menschen nach dreißig Jahren kennen kann. Achtundzwanzig, um genau zu sein.“
Es fiel ihr nicht schwer nachzurechnen. Sie wagte nicht, ihrer Neugier nachzugeben und den Chefarzt über sein Verhältnis zu dem kaum mehr als dreißig Jahre zählenden Doktor Stojanow auszufragen. Vielleicht waren sie ja trotz unterschiedlicher Namen irgendwie miteinander verwandt? Oder Stojanow war der Sohn eines Kollegen. Sein Neffe?
Obwohl ihm bewusst war, dass sein Terminkalender auch am heutigen Tag aus allen Nähten platzte, nahm sich Professor Vogel sämtliche Zeit der Welt für Susann. Er wurde nicht müde, ihre interessierten Fragen zu beantworten. All die Beratungen, Geschäftsessen und unerledigte Post erschienen ihm so unwichtig im Vergleich zu der Aufgabe, die sie jetzt gemeinsam in Angriff nehmen würden. Und wie er die junge Frau einschätzte, würde sie erst dann zufrieden sein, wenn sie diese erfolgreich bewältigt hatte.
„Sprechen Sie mit ihm, Frau Seiler. Erzählen Sie Angel irgendetwas. Vielleicht kann er Sie hören. Möglicherweise reagiert er sogar auf Ihre Stimme und beschließt , weiterleben und wieder aufwachen zu wollen. Versuchen Sie es. Wir können nicht immer da sein. Und abgesehen von uns hat er keine Familie. Geben Sie ihm ein Gefühl von menschlicher Nähe und Wärme.“
Die Studentin nickte eifrig. Sie mochte die geduldige, einfühlsame Art des Professors , alles zu erklären – wenn es sein musste, auch zwei- oder zehnmal, weil sie es nicht eher kapierte. Seine Augen verrieten dieselbe Herzensgüte, die sie nach dem Tod ihres Großvaters nie wieder bei einem Mann gefunden hatte. Mit ihrem Großvater waren vor Jahren die letzten Verbindungen zu ihrer Familie gestorben.
Susann holte tief Luft. Bevor die Erinnerung an die Vergangenheit sie überwältigen konnte, riss sie sich mit Gewalt davon los. Hier ging es um die Gegenwart. Und zumindest um Angels Zukunft.
„ Was ist mit den anderen Patienten? Brauchen die nicht ebenfalls Zuwendung? Einen Menschen an der Seite, welcher ihnen Geborgenheit vermittelt? Das Gefühl, dass sie nicht alleingelassen und vergessen sind?“
Schweigend musterte er sie eine Weile und obgleich sie den Eindruck hatte, er könnte ihre Frage sehr wohl beantworten, blieb er stumm.
„ Sollten Sie nicht alles dafür tun, diesen bedauernswerten Geschöpfen zu helfen? Sind Sie denn gar nicht daran interessiert, dass sie wieder gesund werden?“
„Wir haben einen Eid geleistet , Frau Seiler, und Sie werden in diesem Haus niemanden finden, der ihn nicht ernst nimmt.“
„Und Sie wollen nicht auf meine Frage eingehen. Vielleicht fällt es Ihnen leichter, mir zu erklären, wie das passiert ist. Diese fürchterlichen Verletzungen, wo hat sich Angel die zugezogen? Er saß irgendwann nach dem Unfall an meinem Bett und sprach mit mir. Ich bin mir ganz sicher, als ich das erste Mal aufgewacht bin, habe ich ihn reden hören. Es ging ihm offensichtlich gut, zumindest besser als im Moment. Und jetzt liegt er hier, dem Tod näher als dem Leben. Ich verstehe das nicht.“
Sie hielt inne, schüttelte dann den Kopf und gestand mit einem schiefen Lächeln: „Ich verstehe es absolut nicht. Was ist bei diesem Verkehrsunfall passiert? Die Kinder blieben unverletzt und ich bin mit ein paar unbedeutenden Blessuren davongekommen. Und er … Angel hat mich in die Klinik gebracht. So weit richtig?“
„Ja.“
„Doch nicht so! Er hätte mich wohl kaum in diesem Zustand hierher fahren können. Angeblich war er nicht in den Unfall verwickelt. Da muss ich mich wohl fragen dürfen, wie er sich eine Milzruptur und gebrochene Rippen einhandeln konnte. Und wie ist das mit seinem Herz passiert?“
Es brauchte lediglich einen flüchtigen Blick in die grauen Augen des Professors und Susann war klar, dass sie vergeblich auf eine Antwort warten würde.
Einen langen Augenblick sagten sie kein Wort . Die Enttäuschung lastete wie ein Felsbrocken auf Susann, die tief seufzte und schließlich abwinkte.
„ Was habe ich
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