Zurück von den Toten - Dark Village ; 4
wünschte, sie könnte anders denken. Wünschte, sie wäre in sich drin anders. Und die Menschen um sie herum, ihre Freunde, ihre Familie â die wären auch anders.
Am meisten wünschte sie sich, sie könnte die Arme ausbreiten, wie goldene Flügel. Den Kopf zurücklegen und den Wind spüren, wie er über Stirn, Wangen und die geschlossenen Lider strich. Dann wegfliegen, leise, auf einem Polster aus Luft. Und nie mehr zurückkehren.
Sie trat näher an den Spiegel, schloss die Augen und lehnte die Stirn an das kühle Glas. Einmal musste doch damit Schluss sein! Sie konnte doch nicht immer so bleiben. Früher oder später würde sich etwas ändern. Sie konnte ja nicht erwachsen werden, alt werden und sterben, ohne sich je verändert zu haben. Sie musste beinahe über sich selbst lachen. Diese zornige Ungeduld: Gib mir alles, sofort! Gib mir den Körper und die Liebe und Freunde und das Glück!
Klar werde ich anders, dachte sie.
Mein Gott, so verrückt kann die Welt doch nicht sein. Ich werde nicht für immer und ewig so bleiben.
Sie räusperte sich, warf das Haar zurück. Lieà die Hand hindurchgleiten, während sie sich im Spiegel betrachtete. Alles wird gut, dachte sie.
Irgendwann.
Aber sie irrte sich. Nichts sollte jemals gut werden. Sie würde sich nie verändern. Sie sollte keine Chance dazu bekommen. Sie würde nichts von dem erreichen, was sie sich erträumte. Sie würde nie herausfinden, wer sie war und ob sie so werden konnte, wie sie gern sein wollte.
Denn dies sollte der letzte Abend ihres Lebens sein.
2
Das Handy klingelte, als sie auf dem Klo saÃ. Rasch angelte sie das Telefon aus der Tasche ihrer Hose, die um ihre Knöchel lag.
âHa-hallo?â
Sie hielt den Atem an, während sie lauschte. Sie erkannte die Stimme am anderen Ende nicht, aber sie begriff schnell, dass sie gemeinsame Bekannte hatten.
âJa-aâ, sagte sie ein paar Mal und merkte, dass sie rot wurde, einerseits, weil sie telefonierte, während sie auf der Toilette saÃ, und zum anderen, weil jemand mit ihr über Dinge sprach, aus denen sie normalerweise herausgehalten wurde.
âJa, klarâ, sagte sie.
âWas, echt?â, sagte sie.
âJa, ich kommeâ, sagte sie. âIch muss nur â¦â
Erst vom Klo runter? Sie merkte, wie ihre Wangen noch heiÃer wurden. Sie hätte es beinahe laut gesagt!
âIch beeile michâ, sagte sie.
Sie solle sich Zeit lassen, bekam sie gesagt. Wir treffen uns später, kannst du um acht? Klar konnte sie um acht, natürlich! Sie beendete das Gespräch und legte das Handy neben sich aufs Waschbecken. Sie spülte, zog die Hose hoch, nahm das Telefon und lief auf ihr Zimmer. Sie dachte, dass sie irgendwas Besonderes anziehen musste, ohne zu wissen, was. Stylish sollte es sein, aber nicht zu stylish, nicht âGott-hat-die-sich-aufgebrezeltâ-stylish, sondern einfach ⦠stylish.
Die knapp zwei Stunden bis acht Uhr vergingen schnell. Sie hatte keine Zeit, groà nachzudenken. Es ging jetzt nur darum, wie sie aussah, welche Klamotten am besten passten â und dann musste sie auch schon los. Sie sagte niemandem, dass sie wegwollte, hatte keine Lust auf tausend Fragen und Ermahnungen. Sie wollte auch mal was erleben. Endlich mal!
Sie kam ein paar Minuten vor acht an. Sie blickte sich um, sie nickte, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sagte: âHallo.â
âHallo.â
âBin ich die Erste?â
âNein, neinâ, sagte der Mörder.
âWo sind die anderen denn?â, fragte sie.
âKomm mitâ, sagte der Mörder und drehte sich halb zu dem Gebäude um. âIch zeigâs dir.â
Sie lächelte, bemüht lässig, abgeklärt und cool. Doch es wurde nur ein aufgeregtes, kindisches Kichern daraus.
âIst gutâ, sagte sie und ging mit.
Der Mörder drehte sich zu ihr um und hielt ihr etwas hin. âWillst du?â
âWas?â
âSchmeckt nicht schlecht.â
Es war eine Flasche, eine von diesen schmalen Halbliterflaschen. Der Inhalt war durchsichtig.
âAberâ, sagte sie.
Der Mörder zuckte die Schultern. âDann nicht.â
âWarte!â Sie griff nach der Flasche. âTrinken die anderen auch was?â
âNa logo. Ein bisschen.â
âAh.â
âWas jetzt, ja oder nein?â Der Mörder lachte. âDu musst nicht. Trink oder lass es.
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