Zusammen Allein
geschminkt. Daran musste ich mich erst gewöhnen, an dieses Aufgetakelte. Ich lauschte dem Wort
aufgetakelt
nach, und mir wurde bewusst, dass es gut geeignet war, Vorurteile auszudrücken. Der Mund rosa, die Wangen blutrot und ein einzelnes Muttermal auf der Wange versetzten mich in Aufregung. Vor allem aber die Augenbrauen, zu dunklen Bögen geformt, sprangen mich an und jagten mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich erfuhr, dass sie bereits gearbeitet hatte. Jeden Tag, so erzählte sie mir, half sie im Milchgeschäft. Dafür bekam sie zwei Liter Milch und ein Stück Butter. Jede zweite Butter, jedezweite Milch wurde gegen Kent-Zigaretten, die Kent-Zigaretten gegen Lebensnotwendiges eingetauscht. »Deiner Mutter habe ich oft Milch vorbeigebracht, vor allem als du klein warst. Bis sie zum Einkaufen kam, gab es ja nichts mehr.« Puscha schluckte. »Aber sie hat die Milch lieber sauer werden lassen, als sich bei mir bedanken zu müssen.«
Immer noch stand ich neben dem Bett, sah sie begriffsstutzig an. Das Wort
Mutter
war kein guter Auftakt für einen fröhlichen Tag gewesen. Sie verstand. »Was hast du verloren?«, setzte meine Großmutter zu einem Monolog an. »Soll ich es dir verraten? Nichts! Du denkst, du stehst mit dem Rücken zur Wand. Am Ende glaubst du sogar, deine Zukunft sei futsch. Denkst du das? Schmarren, du bist aus dem Pischalter raus, und deine Eltern hast du immer noch, sogar im Westen. Sie sitzen dort, wo es Waren gibt, an der Quelle also.« Ihre Stirn hatte sich in ein Faltengebilde verwandelt. Ich solle nicht so sauer dreinblicken, bat sie mich. »Vergiss das Wort Trauer«, betonte sie, »wirf es weg.«
Aber so einfach wollte ich es ihr nicht machen. Wenn Gott nur einen winzigen Funken Anstand besäße, gab ich Kontra, würde er meine Eltern auf der Stelle sterben lassen. Dann wüsste ich wenigstens, woran ich wäre. Mitleid lehnte ich ab, und auf Westwaren pfiff ich.
Es war kein Lachen, es war kein Seufzen, das ihre Mundwinkel nach oben trieb, sondern irgendetwas dazwischen.
»Joi, du machst mich wahnsinnig. Weißt du nicht, dass du weder jetzt noch später bestimmen kannst, was dir andere geben? Nimm’s an oder lass es.«
An diesem Tag hörte ich auf, Wörter zu sammeln und zu bewerten.
Puscha nahm mich bei der Hand und ging mit mir in den Garten. Endlich Licht. Ich sah alles. Alles auf einmal. Das viele Grün, die zweifarbigen Taglilien, das Weiß des Weißdorns, den dahinter liegenden Wald der Zinne. Ich war mitten in der Stadt und doch im Paradies. Selbst in Zeiden hatten wir keinen eigenen Garten gehabt. Es war traumhaft. Gerührt schaute ich Puscha an, doch sie wirkte so wenig ergriffen wie eine Schnecke beim Anblick eines roten Balls. Heute trug sie eine Hose. Dunkelbraun, dazu eine weiße Bluse, sehr schick. Westklamotten, das sah man sofort. Sie drückte mir einen Spaten in die Hand und befahl: »Grab ein Loch!«
»Warum?«
»Da«, ohne auf meine Frage einzugehen, deutete sie auf das Gemüsebeet.
»Warum?«, wiederholte ich.
Wieder antwortete sie nicht, sondern drehte sich um und ging ins Haus. Mit dem Reindel kam sie zurück. »Das hätte ich fast vergessen. Wir beerdigen deine Tränen.«
Das fand ich so komisch, dass ich zum ersten Mal laut lachen musste.
»Du bist total plemplem.«
»Total«, stimmte sie mir zu.
Weil ich bei dem Kinderspiel nicht mitmachen wollte, musste sie selbst das Loch graben und die symbolischen Tränen hineinschütten.
»Hast du noch mehr?«, wollte sie wissen. Ungeduldig klopfte sie sich den Dreck von der Hose.
»Mehr was?«
»Das es zu begraben gilt.«
»Den Brief von Mamusch«, sagte ich spontan, rannte zu meinen Sachen und holte den Mutterbrief. Mit zusammengebissenen Zähnen warf ich ihn ins Loch. Und weil mir das immer noch nicht reichte, lief ich erneut ins Haus, holte Stift und Zettel, schrieb:
Ich hasse Euch, ich werde Euch nie verzeihen.
und zerknüllte das Papier, bevor ich es im dunklen Erdreich versenkte. Die Sache begann mir Spaß zu machen.
Plötzlich tauchte ein kleines weißes Kätzchen aus dem Nichts auf. Neugierig beäugte es uns, beäugte das Loch. Dann scharrte es daneben im Erdreich. Nach dem Urinieren versuchte es sich im Zuschütten und stellte sich dabei ziemlich dumm an. Puscha vertrieb die Kleine mit dem Spaten.
»Lass doch. Kannst du Tiere nicht leiden?«
»Wer sagt, dass ich Menschen leiden kann.« Puschas Antworten waren keine Antworten, sondern kleine Ohrfeigen, an die ich mich lange nicht
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