Zusammen Allein
nachdenklich an. Es war offensichtlich, sie wollte mich zu der Aussage bewegen, dass Auswandern eine gute Sache sei. Doch ich schwieg hartnäckig.
Das Wort
Auswandern
schwebte dennoch unverdrossen durch Puschas Haus, einem Gespenst gleich. Ich musste es sorgsam umgehen wie ein Möbelstück, wollte ich mir den Kopf nicht anstoßen.
Doch ich sah nur, was ich sehen wollte, hörte, was ich hören wollte. Jahrelang hatten mich Erzählungen, die mit
Im Westen gibt es …
begannen, brennend interessiert. Jetzt interessierte ich mich für mein Heimatland und für klangvolle Substantive,
Brüderlichkeit
zum Beispiel und
Solidarität
. Auch die Wörter
Aufbau
und
sozialistischer Sieg
klangen vielversprechend. Ich meldete mich für freiwillige Arbeitseinsätze und besuchte zweimal pro Woche die Veranstaltungen der UTM. Das war kein Opfer, überall gab es nette Menschen. So lernte ich Karin kennen. Seit Jahren saß sie in der hintersten Bankreihe in meiner Klasse, doch ich hatte sie nie beachtet. Alles an ihr war spitz, die lange Nase, die abstehenden Zöpfe, selbst ihre Stimme. Man hatte Angst, sich zu verletzen. Aber das war nur der äußere Eindruck. Ihrem Wesen nach war sie ein Schaf, lammfromm und sehr bescheiden. Obwohl ihre Eltern einen Ausreiseantrag gestellt hatten, hielt sie an den Idealen des Sozialismus fest. Wöchentlich sammelten wir Altpapier und Glas, in den Ferien sollten wir Storchenpaare und ihren Nachwuchs zählen. In die Kirche ging ich nicht mehr, dafür sang ich voller Inbrunst sozialistische Lieder über fleißige Arbeiter und unerschrockene Kämpfer. Während dieser Treffen sollten wir Mützen stricken, für das Vaterland. Das Vaterland war groß, der Auftrag ein Massenauftrag. Nach einer Woche bereits ging uns die Wolle aus. Karin und ich zogen los, um neue zu besorgen. Geld war nicht das Problem. Aber in ganz Kronstadt gab es keine Wolle zu kaufen, nicht einen winzigen Faden. Wir kauften Schals aus grünem Polyester. Den ganzen Vorrat. Das Grün war so scheußlich, man hätte kotzen können. Während wir sangen, rubbelten wir dieSchals auf. Immer paarweise. Wenn einer keinen Partner hatte, setzte er sich vor einen Stuhl, wickelte den gekräuselten Faden über die Lehne. Immer wieder entglitt ein Wollknäuel. Wir spielten Fußball und Handball damit. Mit dem Stricken kamen wir nur langsam voran. Das grüne Polyestermaterial sträubte sich dagegen, zu Vaterlandsmützen verarbeitet zu werden.
3
Mischs Sohn Petre nahm ich erst wahr, als ich bereits zur Familie gehörte. Die großen Ferien hatten vor drei Wochen begonnen. Langeweile haftete an mir wie Körpergeruch. Da das Thermometer seit Tagen bei 38 Grad eingerastet war, verspürte ich nicht die geringste Lust, mich in einen Bus zu quetschen, um in einem hoffnungslos überfüllten Schwimmbad Abkühlung zu suchen. Doch die Hitze staute sich nicht nur in den Straßen, sondern auch in Puschas Garten. Mürrisch schlich ich durchs Haus. Ich war allein, allein mit Petres Mutter. Bislang hatte ich sie noch nicht zu Gesicht bekommen, dabei wusste ich alles über sie. Sie stammte aus einem kleinen Dorf nahe Galaţi, an der Grenze zur Ukraine, und war eine Schlampe. Was nichts mit Galaţi und noch weniger mit der Ukraine zu tun hatte. Petre war ihr einziges Kind. Ihn hatte sie mit einem berühmten Clown in Bukarest gezeugt und dann, nachdem die Liebe nicht mehr blühte, versucht, Misch ein Kuckucksei ins Nest zu legen.
»Joi, das Leben ist ein Hund«, erzählte Puscha kopfschüttelnd, »streicht man es gegen den Strich, beißt es. Der Kapitän wusste, was los war, natürlich!« Wieder stolperte ich über diesen Kosenamen, der nicht zu diesem Mann passen wollte. Es gab kein Schiff, das er hätte steuern können und wenn, dann würde Puscha dies tun. Den folgenden Satz bekam ich nur unvollkommenmit. Er, wahrscheinlich meinte sie Misch, hatte sich trotzdem um Petre wie um den eigenen Sohn gekümmert. Er, wahrscheinlich meinte sie Misch, schickte ihn auf die deutsche Schule und förderte ihn, wie und wo er konnte. »No, dass er ein solch kluger und angenehmer Mensch geworden ist, ein angehender Ingenieur, das hat er einzig und allein seinem Vater zu verdanken.«
»Wen meinst du jetzt mit Vater?«
»Bravo, ich rede und rede, und du hörst nicht zu. Den Kapitän natürlich. Das bisschen Samen kannst du getrost vergessen.« Puscha schob ihren großen Busen vor: »Es kommt darauf an, wer deine Zahnspange putzt, wer dir bei den Hausaufgaben hilft und
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