Zusammen Allein
dir ein Stück dieser Welt zeigt.«
Petre war sehr groß und hatte einen dunklen Teint. Ganz oben, da wo seine Stirn gegen Türrahmen und gegen Wolken stieß, umrahmten schwarze Locken sein Gesicht. Er hatte mich nicht sonderlich interessiert, schließlich war er über zwanzig, uralt. Seine Freundin hieß Mira oder Alexandra oder Marina.
»Hast dir bestimmt ein hässliches Mädchen ausgesucht«, versuchte ihn Puscha aus der Reserve zu locken, »oder warum bringst du sie nicht mit?« Er zog lächelnd die Schultern hoch, schwieg.
Einem plötzlichen Impuls folgend ging ich in das gemeinsame Zimmer von Misch und Petre. Meiner Großmutter zuliebe hatte Petre sein Zimmer an mich abgetreten. Die beiden Männer schliefen in einem Doppelbett, auch den Kasten mussten sie sich teilen. Meine Neugierde war oberflächlich. Kleidung interessierte mich nicht,rasch schloss ich wieder den vollgestopften Schrank. Wandte mich dem Regal zu, in dem ich wahllos allerlei Nippes verschob. Eine Porzellantasse aus Bulgarien, ein goldener Fotorahmen mit einem nicht besonders gelungenen Schnappschuss der Familie Dobresan am Schwarzen Meer, ein Zigarettenetui, leer. Das Spannendste, was ich fand, war eine türkische Wasserpfeife, die hinter technischen Büchern versteckt worden war. Aber dann stieß ich auf ein Tagebuch, und mein Leben änderte sich schon wieder von Grund auf. Es gehörte Petre. Als vorletzten Eintrag entdeckte ich ein Gedicht.
Für Agnes
, stand unter dem Gedicht. Ich trat ans Fenster, mit Schritten, die den Boden nicht berührten; diese ungewöhnliche Entdeckung hatte mir Luftkissen an die Sohlen geheftet. In meinem Körper hörte ich zwei Herzen schlagen. Nie mehr wollte ich mit nur einem Herzen auskommen.
Für Agnes.
Minutenlang ging ich alle Begegnungen mit Petre durch, versuchte mir sein Gesicht in Erinnerung zu rufen und all unsere Gespräche. Hatte er je mehr als drei Worte an mich gerichtet?Skeptisch schaute ich in den winzigen Rasierspiegel, der schief an der Fensterfront hing. Mein Äußeres hatte sich in den letzten fünf Minuten kein bisschen verändert. Die Haut zu blass, meine Haare zu dunkel, die Nase zu breit. Petres Augen hatten nicht ein einziges Mal geleuchtet, als er mich anblickte. Introvertiert nannte ihn Misch. Es klang wie ein Schimpfwort.
»Was bedeutet introvertiert«, hatte ich gefragt.
»Wenn sich einer selbst genug ist. Es ist ein Kreuz.« Misch hatte gelacht, »Petre kann nicht keffen, er hat keinen Spaß an Alkohol, er kann sich nicht gehen lassen.« Sein Vater hatte weitere Beispiele aufgezählt, auch von Frauen war die Rede gewesen.
Immer wieder las ich das Gedicht, blätterte in den vorangegangenen Aufzeichnungen, doch meinen Namen oder einen Bezug zu mir fand ich an keiner anderen Stelle.
Das Buch, das ich verunsichert in Händen hielt, war in China produziert worden. Schwarzer fester Einband, roter Rand. Zweite Wahl, das sah man an dem unschön getrockneten Kleber, der zahlreiche Seiten gelblich verunreinigt hatte. Aber war das wichtig? Nichts mehr war wichtig, außer, dass … Ja was? Dass ich einen heimlichen Verehrer hatte. Erneut betrachtete ich mein Spiegelbild, suchte nach etwas Schönem, Einzigartigem, kam jedoch lediglich zu dem Ergebnis, dass ich mich, wäre ich zweiundzwanzig, wäre ich gutaussehend, nicht in mich verlieben würde.
Allerdings, ich kannte nur eine einzige Agnes, er musste mich meinen. Den Namen hatte ich gehasst, aber jetzt las er sich wie ein Versprechen, mein Geliebterhatte ihn niedergeschrieben. Das Neue im Altgewohnten, ich griff mit beiden Händen danach und fühlte mich verzaubert.
Lächelnd ging ich zurück zum Regal, ergriff das Familienfoto.
»Hübscher Kerl«, nickte ich dem zehnjährigen Petre zu, »mehr als vielversprechend.« Und nachdem ich in einer Schublade weitere Fotos entdeckt hatte, die mir den ausgewachsenen Petre vor Augen führten, war ich mir sicher: Ja, er ist fast schon unwiderstehlich. Und nicht nur das, war nicht auch die Art, wie er sein Bett gemacht und seinen Schlafanzug unter das Kopfkissen geschoben hatte, sauber gefaltet, als wolle er seinem Vater so wenig Platz wie möglich wegnehmen, nicht rührend, zeugte von hoher Sensibilität? Ich seufzte, drehte mich im Kreis, konnte kaum abwarten, bis es Abend wurde und Petre nach Hause kommen würde.
Diese unerwartete Verliebtheit störte mich keineswegs, ich fand es auch nicht sonderbar, dass ich von etwas wusste, was nicht für mich aufgeschrieben worden war.
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