Zusammen Allein
sitzenden Maßanzügen. Was ihm an körperlicher Größe fehlte, steckte in seiner Stimme. Sie war laut und voller Tiefe. Vernahm man sie zum ersten Mal, schaute man sich unweigerlich um, weil man nicht glauben konnte, dass dieser kleine Resonanzkörper einen solchen Bass hervorbringen konnte. In Kronstadt war niemand bereit gewesen, Petre zu verteidigen. Aussichtslos, hatten die einen gesagt, viel zu gefährlich, die anderen.
Neun Wochen nach Petres Festnahme fand der Prozess statt. Zuschauer waren nicht zugelassen, und sowieso erreichte uns die Nachricht erst zwei Stunden vor Prozessbeginn. Auch Herr Cherea schien überrumpelt worden zu sein.
»Mit dem Nachtzug bin ich angereist«, teilte er mir um sechs Uhr morgens telefonisch mit. Da ich unten in der Küche geschlafen hatte, stand ich als Erste bibbernd neben dem Telefontischchen.
»Wer spricht da?« Es dauerte eine Weile, bevor der Schlaf von mir abfiel und ein Begreifen einsetzte. Nach einer kurzen Redepause entschuldigte er sich dafür, dass er zwischendrin und gleichzeitig Zähneputzen würde.
»Sind Sie bei Gericht?«
»Nein, nicht doch, wie kommen Sie darauf. In einem Hotel. Im … ach, ich weiß nicht, wie es heißt. Das interessiert Sie bestimmt auch nicht, aber viel Neues habe ich leider nicht zu berichten, eigentlich gar nichts, weder Neues noch Altes. Es wird Zeit, dass ich mich anziehe, hätten sie ein Bildtelefon, sie bekämen immerhin Auskunft über das Muster meines Pyjamas.«
»Wie geht es Petre?«, unterbrach ich ihn.
»Gute Frage. Ich habe keine Ahnung«, klärte er mich auf und nuschelte, dass seine Anträge auf einen Gesprächstermin abgelehnt worden seien. Dennoch habe die Staatsanwaltschaft beschlossen, heute das Verfahren zu eröffnen. Entgegenkommenderweise dürfe er eine Stunde früher bei Gericht anrücken. Diese eine Stunde aber müsse reichen, um Petre kennenzulernen und die gemeinsame Strategie zu besprechen. Bei dem Wort Strategie verschluckte er sich und musste ausspülen. »Entschuldigen Sie. Also, drücken Sie uns die Daumen, wir werden alles Glück der Welt brauchen.« Sein Gerede stimmte mich nicht gerade zuversichtlich.
Unsere sorgsam wiederaufgebaute Normalität zerfiel zu Scherben. Puscha meldete sich das erste Mal in acht Jahren krank, der Kapitän nahm sich frei, und auch ich schwänzte die Schule. Wie Gipsfiguren saßen wir um den Küchentisch herum, es wurde nicht gesprochen. Allein Leo konnte unsere Teilnahmslosigkeit nicht verstehen und bellte eine Nachbarin herbei. Sie schimpfte uns aus, verlangte, dass wir das Tier sofort zum Schweigern bringen sollten, sonst würde sie es tun. Nachdem sich keiner der Erwachsenen rührte, ging ich ihn füttern.
Am Abend erfuhren wir: Die Verhandlung hatte achtundreißig Minuten gedauert. Die Anklage lautete: Herstellung und Verteilung von Schriften mit antisozialistischem Hintergrund.
»Das gilt als Landesverrat«, klärte uns Herr Cherea auf. Und obwohl Petre alles zugegeben und die Schuld auf sich genommen hatte, um Mira zu entlasten, hatte die Staatsanwaltschaft fünfzehn Jahre gefordert. Fünfzehn Jahre! Mir blieb das Herz stehen, und den anderen schien es ähnlich zu ergehen.
»Ja, aber der Richter hat doch hoffentlich …« Puscha verstummte. Mit Tränen in den Augen stand der kleine Mann vor uns. Setzen wollte er sich nicht, er sei zu aufgewühlt, behauptete er, und essen … »Um Gottes willen, essen kann ich nie, wenn ich mit denen zu tun hatte.«
Der Kapitän machte Zeichen, ruderte mit den Armen, wollte kundtun, dass dieser Raum eventuell verwanzt war, doch der Anwalt winkte ab. »Kommen wir zur traurigen Wahrheit, denn von einem glücklichen Ausgang kann man wirklich nicht sprechen.« Der Anwalt legte eine Pause ein, wischte sich mit einem riesigen honiggelben Taschentuch den Schweiß von der Stirn. »Meine Redezeit betrug acht Minuten, danach wurde das Urteil verkündet.« In der Küche hörte man eine Kakerlake seufzen, sonst war alles still. »Immerhin, der Richter ist unter der Forderung des Staatsanwalts geblieben, aber das ist immer so, damit man denkt, man wäre gut weggekommen. Also acht Jahre Freiheitsentzug, es tut mir leid.«
Ich weiß nicht mehr, was ich sagte oder tat, in meinem Ohr aber steckt die Erinnerung an einen heiserenSchrei. Ausgestoßen wurde er von Puscha oder dem Kapitän, vielleicht auch von mir. Acht Jahre in einem rumänischen Gefängnis war wie lebenslänglich. Für den privaten Hausbesuch berechnete Herr Cherea 3000
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