Zusammen Allein
Nylonstrümpfe ohne Löcher hätte, wenn ich in einem warmen Raum herumstolzieren könnte, auf hochhackigen Schuhen, dann würdest du keinen Unterschied zwischen ihren und meinen Beinen feststellen.«
»Beweisen!«, rief er mir zu. »Wir fahren zu meiner Schwester, die hat alles.«
»Genau das ist es ja«, giftete ich ihn an. »Du verstehst gar nichts. Warum hat deine Schwester eine geheizte Wohnung, warum hat sie Nylonstrümpfe? Weil sie mit einem Funktionär verheiratet ist, deshalb.«
»Aber sie ist immer noch meine Schwester.«
Es war mein letzter Besuch bei Karin. Die Familie wohnte in einer Wohnung ohne Fenster, im Erdgeschoss eines großen Wohnblocks. Warum die Fenster vergessen worden waren, wusste niemand.
»Wie geht’s?« Wir stellten die Frage gleichzeitig.
In der winzigen Küche standen zwei Stühle. Die Wände waren im Sommer frisch gestrichen worden, doch die Farbe zeigte bereits feine Haarrisse. Am Plafond hattesich Eis gebildet. Weil der Backofen offen stand, um den Raum zu beheizen, tropfte Tauwasser auf den Tisch und den Fußboden. In der Wohnung roch es säuerlich.
»Warum besteht ein rumänischer Supermarkt aus drei Stockwerken?«, fragte ich Karin. »Ich sag’s dir. Er ist wie euer Regal aufgebaut. Im Erdgeschoss verkaufen sie Mineralwasser, im zweiten Stock Dosenerbsen, im dritten Essig.«
Karin zog eine Schnute. »Das ist nicht witzig.«
»Du hast recht«, gab ich zu, und unser Gespräch verstummte. »Wo sind eure Möbel?«, fragte ich schließlich.
»Verkauft.«
»Und ihr fahrt wirklich?« Ich wusste nicht, wie ich ihr das mit dem Brief schmackhaft machen sollte. Warum sollte jemand, der dabei war, sich in Sicherheit zu bringen, das Risiko eingehen, an der Grenze aufgehalten zu werden? Welches Argument konnte ich vorbringen außer dem Appell an ihre Menschlichkeit?
Unruhig tastete ich nach meinem Mantel. Aus Furcht, kontrolliert zu werden, hatte ich eine Naht des Futters aufgetrennt und den Brief versteckt. Nicht sehr originell, aber mir war kein besseres Versteck eingefallen.
»Ist fast nichts Besonderes mehr«, antwortete Karin. »Alle fahren. Fast alle.«
»Aber ihr habt siebzehn Jahre gewartet.«
»Noch länger. Als meine Eltern das erste Mal die Ausreise beantragt haben, da war ich noch gar nicht auf der Welt.«
»Ha, dann kannst du froh sein, dass sie dich mitnehmen dürfen.«
»Setz dich«, forderte Karin mich auf. Ihr Vater sei in Bukarest, berichtete sie, die Ausbildungskosten müsstenzurückgezahlt werden. Für Schule, Studium und so weiter. Das hätten sie nicht einkalkuliert, schlichtweg vergessen und plötzlich Geld gebraucht. »Du wirst das noch merken.«
»Was denn?«
»Wie teuer eine Ausreise ist und dass …«
Ich hörte ihr nicht zu, sondern jonglierte im Kopf mit Worten. Erst als Karin berichtete, ihr Vater sei in der Hauptstadt als Ausländer eingestuft worden und müsse im Hotel mit Devisen bezahlen, horchte ich auf.
»Als Nochrumäne darf er aber keine Devisen besitzen, es ist absurd. Am Ende werden sie ihn als Zechpreller dortbehalten«, vollendete Karin ihren Bericht. Es war nicht ersichtlich, ob sie sich wirklich Sorgen machte oder nicht. Egal, ich ergriff meine Chance. Ein Zechpreller, ach wie schön.
Rasch kramte ich den Brief hervor und hielt ihn ihr unter die Nase. Wenn sich ihr Vater sowieso am Rande der Illegalität bewegen würde, versuchte ich Karins Abwehr zu umgehen, und jeder wisse, dass es eine Kollektivbestrafung in Rumänien gebe, sie also im Falle einer Verhaftung ebenfalls angeschmiert sei, ob sie sich dann nicht vorstellen könne, eventuell und unter gewissen Umständen ebenfalls kriminell zu werden? Mit großen Augen starrte sie auf meine Hand, starrte auf den dargebotenen Brief. Sie wusste von Petres Verhaftung, doch damit sie das Ausmaß der Gefahr, in der er steckte, ermessen konnte, fütterte ich sie mit übertriebenen und erfundenen Schreckensmeldungen aus Piteşti. »Karin, du musst ihm helfen. Nein, du musst ihm und mir helfen«, bettelte ich. »Wenn du den Brief nicht mitnehmen willst, lern ihn auswendig. Allerdings wirddann die Beweiskraft gemildert. Meine Großmutter sagt, du sollst ihn meiner Mutter schicken, aber ich glaube, die Liga für Menschenrechte ist verlässlicher. Die sitzt in Paris oder so. Das musst du herausfinden und denen dann alles berichten, was du weißt. Bitte.« Ich drängte, nachdem Angst und Abwehr in ihrem Blick an Intensität zugenommen hatten. »Weil du mich verlässt, ausgerechnet
Weitere Kostenlose Bücher