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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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zeigen, was wir aus der handwerklichen Kunst des Herstellens und Reparierens materieller Objekte über das soziale Leben lernen können. Das achte Kapitel befasst sich mit einem Anwendungsfall der, wie ich es nennen werde, »Alltagsdiplomatie«, der Kunst, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die anderer Meinung sind als wir, die wir vielleicht nicht mögen oder die wir nicht verstehen. Die dazu erforderlichen Techniken haben eine gewisse Ähnlichkeit mit schauspielerischen Fertigkeiten. Zum Abschluss untersuche ich im neunten Kapitel Engagement. Empfänglichkeit für andere und Kooperation bedürfen offensichtlich eines gewissen Engagements, doch dieses kennt viele Formen. Welche sollten wir wählen?
    In dieser Weise versuche ich, die Kooperation aus vielen Blickwinkeln zu betrachten. Die Welt, in der ich als Soziologe lebe, ist voller politischer Streber, die Karriere machen, indem sie anderen Menschen sagen, wie sie sich verhalten sollten. Am Ende des Buchs werde ich nicht mit solchen Weisheiten aufwarten können. Stattdessen bemühe ich mich, diese Reise im Geiste des dialogischsten aller Autoren zu unternehmen, des Essayisten Michel de Montaigne.

ERSTER TEIL
    Kooperation gestalten

I »Die soziale Frage«
    Reformer in Paris ergründen ein Rätsel

    Ein Besucher der Pariser Weltausstellung von 1900 hatte Mühe, den brisantesten Teil der Ausstellung zu finden. Auf dem weitläufigen Champ de Mars drängten sich die Pavillons der Ausstellung zu Füßen des strahlend gelb gestrichenen Eiffelturms. Dort konnte man die neuesten Wasserklosetts, Maschinengewehre und industriellen Webstühle bewundern. Auf dem Ausstellungsgelände feierte das offizielle Frankreich den »Triumph der Industrie und des Kaiserreichs«, doch versteckt in einer Seitenstraße waren enge Räume den von diesem Triumph aufgeworfenen menschlichen Fragen gewidmet. Die Organisatoren der Ausstellung hatten diesem Nebenschauplatz den Namen Musée social gegeben, Sozialmuseum – ein Louvre der Arbeit, der zeigen sollte, wie im Kapitalismus gearbeitet wurde. Die Aussteller wählten eine ganz andere Bezeichnung für ihre Räume. Sie nannten die Ausstellung »La Question sociale « – »Die soziale Frage«. 1
    Kein Museumskurator käme heute auf die Idee, solch eine Ausstellung auszurichten. Moderne Kuratoren gäben Unsummen für ein Gemälde aus getrocknetem Menschenblut aus, weil sie meinen, solche »Grenzüberschreitung« sei eine soziale »Aussage«. Die in der Pariser Ausstellung gemachten Aussagen kamen meist in Gestalt von Dokumenten und an die Wand gehefteten Karten daher. Auf einer Wand fanden sich Charles Booths Karten der Armut in London, »die Klassenverhältnisse der Stadt, Straße für Straße dargestellt in leuchtenden Streifen des Reichtums und dunklen Massen der Armut«. 2 Die Deutschen zeigten Dokumente zu der geschichtsträchtigen Koalition aus Gewerkschaften und politischen Parteien, für die Ferdinand Lassalles Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein stand, in dem Facharbeiter und Angelernte organisiert waren. Die Franzosen hingen diverse Pamphlete zur Sozialpolitik aus, und zwischen staatlichen Berichten fanden sich auch Zeugnisse privater, in lokalen Gemeinden arbeitender Vereine, darunter auch Dokumente der in Entstehung begriffenen katholischen Arbeiterbewegung.
    Die amerikanische Ausstellung war die kleinste. Sie befasste sich in weiten Teilen mit der Rassenfrage – etwas für die Europäer gänzlich Neues, denn sie konzentrierten sich im Allgemeinen auf die Klassenfrage. In einer Ecke stieß der Besucher auf die Ergebnisse einer entmutigenden Studie von W. E. B. Dubois über das Schicksal von Afroamerikanern im Bundesstaat Georgia seit dem Ende der Sklaverei. In einer anderen Ecke des amerikanischen Raums waren Arbeiten aus dem Hampton und dem Tuskegee Institute ausgestellt, zwei Einrichtungen, in denen ehemalige afroamerikanische Sklaven zu Handwerkern ausgebildet wurden – deren Zusammenarbeit nun nicht mehr von der Peitsche eines Aufsehers erzwungen wurde. 3
    Obwohl in nüchterner Sprache gehalten, sollten all diese Ausstellungsstücke durchaus provozieren, und das gelang ihnen auch, zumindest nach den Besucherzahlen zu urteilen. Nach der Eröffnung wanderten die Besucher der Weltausstellung recht ziellos zwischen Wasserklosetts und Industriebohrern umher, doch während die Menge auf dem Champ de Mars sich lichtete, drängten sich die Menschen in den Räumen der alternativen Ausstellung und diskutierten angeregt

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