Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält
Ausbildungswerkstatt für den zweiten Ansatz. Diese Spaltung hatte auch Auswirkungen auf die Frage der Kooperation. Die vom ersten Ansatz überzeugten Aktivisten sahen in der Zusammenarbeit ein Mittel zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele. Die dem zweiten Ansatz verpflichteten lokalen Aktivisten waren besorgt über die Machtspiele in ihren kleinen Organisationen: Wer hat das Sagen? Wer bestimmt über Aufnahme oder Ausschluss? Die lokalen Aktivisten wünschten sich im Gemeindehaus oder auf der Straße so viel freie Beteiligung wie möglich, auch wenn die Disziplin darunter leiden mochte.
So gab es denn in diesen Diskussionen zwei verschiedene Auffassungen von Solidarität. Die eine betonte die Einheit, die andere die Inklusion. Diese Unterschiede waren nicht auf die Linke beschränkt und gehören auch nicht nur der Vergangenheit an. Bewegungen jeglicher politischen Couleur müssen entscheiden, ob sie das Schwergewicht auf Einheit oder auf eine vielfältigere Inklusion legen wollen. Sie müssen mit internen politischen Auseinandersetzungen fertigwerden, und sie müssen klären, welche Art von Solidarität sie anstreben. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts entwickelte sich das Solidaritätsverständnis zum Unterscheidungsmerkmal zwischen der politischen und der sozialen Linken – wie man sie nennen könnte.
Zwei Wege
In Paris erklärten Aktivisten der politischen Linken, man könne einer großen Macht nur mit großer Macht begegnen. Große politische Parteien und Gewerkschaften seien der einzige Weg zur Veränderung des kapitalistischen Ungeheuers.
Die militärische Organisation diente dieser radikalen Politik als Vorbild. Schon der Ausdruck »militant« wurde seit dem 12. Jahrhundert für Soldaten und Kämpfer aller Art verwendet. Während der Gegenreformation begann die katholische Kirche, sich selbst als militante Organisation zu bezeichnen, die sich im Krieg mit den Protestanten befand. Im frühen 20. Jahrhundert ging das Wort in England und Frankreich in den allgemeinen Sprachgebrauch ein, und zwar zur Kennzeichnung einer radikalen Politik. Saint-Justs Fragments sur les institutions républicaines und Lenins Was tun? sind gleichermaßen blutrünstig-radikale Traktate, doch am Ende des 18. Jahrhunderts vergleicht Saint-Just den Revolutionär meist mit dem Polizisten, während im frühen 20. Jahrhundert Lenins Sprache bruchlos zwischen organisierter Politik und Krieg hin und her wechselt. Wie in der Armee, schreibt Lenin, müsse radikale Disziplin von oben kommen. Solidarität verlange die Aufgabe des Ich in den Reihen der Soldaten. In verbaler Hinsicht machte der militante Aktivismus Lenin’scher Prägung aus dem (in der Einleitung erörterten) »Behauptungsfetischismus« eine Tugend.
Da der Marxismus-Leninismus die spätere Geschichte des Staatssozialismus beherrschte, könnte man meinen, er wäre identisch mit jenem Ansatz linker Politik, der hoffte, die Verhältnisse von oben nach unten verändern zu können. Doch das war vor einem Jahrhundert durchaus nicht der Fall. Tatsächlich wandten sich viele Radikale wegen dieser Politik gegen den Marxismus. Sie spürten ganz zu Recht, dass der Marxismus Krieg gegen andere linke Parteien führen würde, statt mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die 1875 von Karl Marx verfasste Kritik des Gothaer Programms enthält diese Verweigerung der Zusammenarbeit in nuce . Das Pamphlet attackierte die in Entstehung begriffene Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die stärkste linke Organisation in Europa, weil sie zu wenig revolutionär sei. Der Streitschrift gelang es, die meisten Freunde in Feinde zu verwandeln, und ist bis heute ein Gründungstext des Brudermords innerhalb der Linken.
Für die deutschen Sozialdemokraten wie auch für die französischen Radikalen, die nach dem deutschen Einmarsch in Frankreich 1870 ihr politisches Geschick wiederaufzurichten versuchten, bedeutete Solidarität die Verschmelzung von linken Faktionen und Splittergruppen zu einem einzigen Ganzen. Kollektivverhandlungen auf nationaler Ebene, in denen man auf die zahlenmäßige Stärke setzte, waren eine Erfindung des späteren 19. Jahrhunderts. So hoffte man, ein gemeinsames Band zwischen Menschen zu schaffen, die in Industrie und Handwerk ganz unterschiedliche Tätigkeiten ausübten. Viele Arbeiter hielten freilich am alten Zunftideal der Berufe fest, wonach jeder Berufsstand seine eigenen politischen Interessen hatte. Wollte man diesen Hang überwinden, bedurfte es eines gewissen Maßes
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