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Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält

Titel: Zusammenarbeit - was unsere Gesellschaft zusammenhält Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sennett Richard
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die sie bislang für selbstverständlich hielten. 5
    Am stärksten war der Fremdenschock nach Ansicht Simmels in großen, expandierenden Städten wie Berlin. Auf den Straßen der Stadt fänden sich ständig neue Reize, vor allem an Orten wie dem damaligen Potsdamer Platz, wo mehrere Straßen zusammenliefen, auf denen Menschen unterschiedlichster Art in ein hochverdichtetes Zentrum strömten. Als Verfechter des Unterschieds glaubte Simmel, sein Zeitgenosse Ferdinand Tönnies – der »das Soziale« mit der kleinteiligen, intimen »Gemeinschaft« gleichsetzte – trage Scheuklappen. Das Zusammenleben mit anderen Menschen sei größer und reicher. 6
    Die Wahrnehmung der anderen passiere allerdings nur im Kopf des Stadtbewohners. Der Städter, sagt Simmel, setze in der Öffentlichkeit eine kühle, rationale Maske auf, um sich vor den zahllosen, von außen auf ihn einströmenden Reizen zu schützen. In Gegenwart von Fremden zeige der Städter nur selten, was er fühlt. Auf engstem Raum mit Fremden zusammengedrängt, die er sieht, mit denen er aber nicht spricht, und hinter einer Maske verborgen, hat der moderne Mensch in der Stadt einen Weg vom universellen Vergnügen der Geselligkeit hin zu einer subjektiven Situation zurückgelegt, die Simmel als »Sozialität« bezeichnet.
    Der nicht sonderlich gebräuchliche Ausdruck ist im Französischen schon lange bekannt. Dort verweist socialité auf den selbstsicheren Umgang mit schwierigen und feindseligen Situationen, etwa wenn Diplomaten sich an den Verhandlungstisch begeben. Sie setzen eine undurchdringliche Miene auf, offen für das, was andere sagen, aber kühl und ruhig und ohne spontane Reaktion. Darin ist socialité mit der Empathie verwandt, wie ich sie in der Einleitung zu diesem Buch beschrieben habe. Auch sie erfordert Fertigkeiten. Die Franzosen verbinden die Fähigkeit, in schwierigen Situationen zu handeln, mit savoir faire , einem Ausdruck, der mehr umfasst als das Wissen, welchen Wein man im Restaurant bestellen soll. Für Simmel liegt der Vorzug der Sozialität darin, dass sie nicht aus zwanglosen Eindrücken besteht, sondern tiefer reichen kann. Zur Verdeutlichung kontrastiert er Sozialität mit »Verbindung«, die etwas von Ganzmachen oder Heilen hat. Sozialität kann auch eine tragische Dimension haben in der Anerkennung jener Wunden in den miteinander gemachten Erfahrungen, die nicht heilen. Woran Simmel hier dachte, verdeutlichten mir die Worte eines vietnamesischen Taxifahrers gegenüber einer Gruppe von Amerikanern, die zwanzig Jahre nach Amerikas unseligem Krieg nach Hanoi zurückkehrten: »Wir haben euch nicht vergessen.« Er sagte nicht mehr und nicht weniger, sondern verwies statt versöhnlicher Worte lediglich auf einen schmerzlichen Zusammenhang. Meine Gefährten und ich schwiegen – und taten gut daran.
    So ist denn Sozialität kein aktives Zugehen auf andere; es ist gegenseitiges Wahrnehmen anstelle gemeinsamen Handelns. Sozialität und Solidarität kontrastieren also miteinander. In Paris wählten die über die »soziale Frage« debattierenden Radikalen den gegenüber Simmels Denken entgegengesetzten Weg. Sie wollten die trennenden Risse in der Gesellschaft durch gemeinschaftliches Handeln heilen, sie strebten nach »Verbindung«. Für einen besonderen Weckruf sorgten die Dreyfus-Affäre in Frankreich, die 1894 mit der spektakulären Verurteilung eines jüdischen Offiziers wegen Landesverrats begann, und die Wahl des Antisemiten Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien 1895. In Frankreich wie in Wien wandten sich viele einfache Arbeiter gegen ihre jüdischen Nachbarn und gegen Juden aus höheren sozialen Schichten. Manche Radikale reagierten auf diese Ausbrüche, indem sie zur Toleranz aufriefen – eine sehr Simmel’sche Tugend. Die Sozialität verlange, dass man die Anwesenheit von Fremden als wertvoll begreife. Andere sagten, Toleranz allein reiche nicht aus. Die Arbeiterklasse brauche eine stärker verbindende Erfahrung, wie einen gemeinsamen Streik für höhere Löhne, um die ethnische Kluft zu überwinden.
    Die stärkere Bedeutung, die Aussteller und Besucher des Musée social dem »Sozialen« verliehen, führte jedoch nicht zu deren Vereinigung. Ihre Debatten über die Solidarität warfen zwei große Fragen auf. Die Linke spaltete sich in jene, die Solidarität von oben nach unten, und in jene, die sie von unten nach oben herbeiführen wollten. Die zentralisierte deutsche Gewerkschaft stand für den ersten, die amerikanische

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